Die alte Binsenweisheit, dass Not erfinderisch macht, klingt in Coronazeiten wie Selbstermunterung. Stimmt aber trotzdem oft. Zum Beispiel im Falle des jüngsten Auftragswerkes des Theaters Chemnitz, das am Freitag seine online-Premiere hatte. Titel: „Isolation Club“. Genre: Kammeroper mit Beats für zwei Sänger.
Das einstündige Resultat funktioniert vor allem deshalb, weil so gut wie alles zusammenpasst. Das fängt beim Thema und den Herausforderungen der unmittelbaren Gegenwart an. Speziell bei den Auswirkungen der Pandemiebekämpfung auf die Generation Internet und social media. Es passen aber auch die (noch) jungen Macher und die (Haupt-)Zielgruppe zueinander. Autor Florian Stanek (33) und Komponist Sebastian Brandmeir (37) sind selbst noch ziemlich dicht an der Generation ihrer Protagonisten und Adressaten. Sie müssen nur aus ihrer eigenen Erfahrungswelt und Gefühlslage schöpfen, ohne endlos in fremden Gefilden zu recherchieren. Bei dem deutlich erfahreneren Chemnitzer DJ und Musikproduzenten Olaf Bender (53) stellt sich diese Nähe sozusagen berufsbedingt her.
Durch das Online-Format passen aber auch Inhalt und Form zusammen. Man kann das, was von der Vereinzelung am Bildschirm handelt, nur an genau diesem Bildschirm rezipieren. Und obendrein passt am Ende einer (über-)langen Lockdownphase, von der man noch nicht wirklich weiß, ob es die letzte war, auch der Zeitpunkt der Uraufführung gerade noch. Das Theater Chemnitz hat mit Blick zurück auf das Eindringen der Coronakrise in den Lebensalltag vor allem der jungen Menschen, und mit dem Blick voraus auf das Kulturhauptstadtjahr ein ambitioniertes Projekt in Auftrag gegeben und realisiert.
Dessen Untertitel Kammeroper läuft möglicherweise Gefahr, zu verschrecken. Zu Unrecht, denn es ist Musiktheater ohne Zugangsbarriere für Clubgänger. Der Zusatz „mit Beats“ ist ernstgemeint, sollte aber seinerseits auch den klassischen Opernfreund, für den das eher Lärm sein könnte, nicht abschrecken. Insgesamt ist das Ergebnis nämlich eine originelle Novität, in der es um die Isolation junger Leute geht. Dabei wird deren schon länger frei gewähltes Abtauchen in die unendlichen Weiten des Internets, in denen Bildschirme die wichtigsten Fenster ins Freie, zur Welt zu werden drohen. Dort dominieren die Sprechblasen der (a-)sozialen Medien, die Formen und den Stil der Kommunikation. Durch die staatlich verordnete Pandemiebekämpfung mit ihren Eingriffen in den Arbeits- und Lebensalltag werden die plötzlich auf unbestimmte Zeit alternativlos. Und in ihrer Konsequenz erschreckend.
Im Stück begegnen sich Hannah und Paul. Sie ist eine Influencerin, die stolz auf die 400.000 Abonnenten ihres Lifestyle-Youtube-Kanals ist und in ihren Blogs zum Durchhalten in der Krise aufruft und Mut macht. Das hat bei ihr etwas vom lauten Pfeifen im finsteren Wald. Denn als bei ihr aus einer Job-Bewerbung in Berlin nichts wird, ist sie am Boden zerstört. Davon erfährt man bei einem Telefonat mit ihrer Mutter. Die natürlich Hilfe verspricht. Paul wiederum ist ein Skeptiker, der als Follower via Sprechblase Kontakt mit ihr aufnimmt. Unverbindlich plänkelnd, schnell missverständlich, wie das halt so ist mit den kurzen Zweizeilern. Doch dann kommen sich beide in ihrer Sehnsucht nach der normalen analogen Welt näher. Sie begegnen sich im Sehnsuchtsort ihrer Generation, dem Club, und genießen die für sie befreiend wirkenden Beats. Irgendwo zwischen Wunschtraum und Realität. Da klingt die analog von Jeffrey Goldberg am Klavier, von Ovidiu Simbotin mit der Violine und von Jörg Scholz mit dem Kontrabass produzierte Musik sogar fast operettig. Die Situation spitzt sich zu, als Paul in die Falle der Corona-Leugner und in deren Parallelwelt gerät und selbst einen eher rechtslastigen Blog betreibt.
Die Inszenierung von Veit-Jacob Walter wechselt zwischen gesprochenen Texten, inklusive der eingeblendeten Sprechblasenfelder, wenn nur übers Netz kommuniziert wird, und Gesang. Musikalisch werden dabei ohne falsche Zurückhaltung Anklänge an Bach-Fugen, Schubert-Lieder oder Operette ebenso zur Inspiration benutzt wie Neue Musik, Pop oder Techno. Ausstatterin Claudia Weinhart hat die privaten Räume der beiden erkennbar im Ambiente des Chemnitzer Clubs Transit separiert, dabei vor allem die unverputzten Mauern metaphorisch mitreden lassen. Die junge Mezzosopranistin Marlen Bieber und Bassbariton Felix Rohleder vom neu gegründeten Chemnitzer Opernstudio wirken nicht nur vokal professionell und überzeugend, sondern auch in ihrem spielerischen Umgang mit der digitalen Welt souverän und vertraut.
- Nächste Möglichkeiten für einen virtuellen Vorstellungsbesuch mit Streaming-Ticket (zwischen 0 und 20 €): Mo, 14., 17. und 19.06.2021 jeweils 19:00 Uhr.