Ein großartiges Sängerensemble, eine profunde Orchesterleistung und eine komplexe Inszenierung voller ästhetischer, aber auch nachdenkliche Momente haben das Publikum anlässlich der Premiere von Carl Orffs dreiteiligen „Trionfi“ in Begeisterung versetzt.
Parabel der Vergänglichkeit und des Zufalls – Carl Orffs „Trionfi“ an der Staatsoper Hamburg
Am bekanntesten daraus sind die „Carmina Burana“, sie sind Teil einer Trilogie, die Orff „Trionfi“ genannt hat, also Triumphe. Die anderen Teile „Catulli Carmina“ (Lieder von Catull) handeln von Liebe und Eifersucht zwischen den antiken Figuren Catull und Lesbia. Hier wird Lesbia umringt von nackten Menschen: eine Orgie als sexuelle Fantasie. Im zweiten Teil „Trionfo di Afrodite“ (Sieg der Liebesgöttin Aphrodite) geht es bei einer Massenhochzeit munter weiter. Auch hier viel Nacktheit, Sexualität und Theaterblut. Darauf folgt die „Carmina Burana“. Die Lieder über Frühling, Liebe, Sex und Alkohol werden auf der Bühne zum orgiastischen Weinfest. Das sinnvoll zu inszenieren, ist alles andere als einfach. Die Produktion ist eine echte Teamarbeit. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito gibt dem von den Handlungssträngen her schwierigen Werk Struktur. Selten überzeugt eine die Mehrdeutigkeit des Werks so sichtbar machende Regie. Hinzu kommen ästhetische spannende Bilder (Bühnenbild: Rebecca Ringst) voller Andeutungen einerseits und Symbolkraft andererseits, die dem Publikum verbunden mit einer subtilen Lichtführung (Michael Bauer) und magischen Videos (Sarah Derendinger), die auch eigene Assoziationsräume erlauben.
Calixto Bieito hat das Kunststück vollbracht, aus diesem Knäul von Handlungssträngen ohne erhobenen Fingerzeig eine aktuelle Parabel (Stichwort: Vanitas) vor dem Hintergrund der Zufälligkeit des Glückes zu formen („Fortuna“). Die zahlreichen orgiastischen Szenen mit viel Nacktheit von jung bis alt werden zur Allegorie der Vergänglichkeit. Es geht oft nur um enthemmte Lustbefriedigung auf allen Ebenen und das ist in der Tat erschreckend aktuell. Vor allem, wenn der Rotwein aus Eimern durch die Gegend fliegt, wird die Bühne zu einer roten Rutschbahn, die an Blutlachen erinnert. Hervorragend der Einfall Bieitos die hochbetagte Gerlinde Supplitt als Personifizierung des Alters und der Vergänglichkeit auftreten zu lassen. Auch sie muss am Ende alle Hüllen fallen lassen.
Eine Gesellschaft, die enthemmt dem Konsum und der Triebbefriedigung auf allen Ebenen verfallen ist
Die Anforderungen, die Orff an das Orchester stellt, sind überbordend. Weil nicht alles in den Orchestergraben passt, wird auf beweglichen Tribünen über der Bühne gespielt. Diese Konstruktion erfordert zwei Hilfsdirigenten, die das Ganze vom Zuschauerraum aus koordinieren. Auch in der sattsam bekannten Musik von Carmina Burana gibt es noch einiges zu entdecken. Generalmusikdirektor Kent Nagano spürt noch geringfügigste Motivzusammenhänge auf und lässt sie quasi als kleinste Energieeinheiten zu der verträumten Hochspannung zusammenfinden. Nagano organisiert dabei das komplexe Klanggeschehen mit enormer Perfektion. Sein subtiles Dirigat zieht musikalisch das Publikum mitten ins Geschehen hinein. Auch hier verändern sich die Perspektiven ständig; auch hier schwankt so die Wahrnehmung, die zugleich von Verschachtelungen von Volksliedern, Tanzmusik usw. Die Raum- und Zeitkoordinaten kommen musikalisch ins Schwanken.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg überzeugt ohne Abstriche. Der Chor der Hamburgischen Staatsoper, der Chor der Liatoshynski Capella, Kyiv, Ukraine, der Hamburger Knabenchor und die Alsterspatzen – Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper agieren musikalisch sensibel, technisch souverän und auch darstellerisch souverän. Sie sind ja viel beschäftigt in den unterschiedlichen Rollen als Jünglinge und Mädchen bis hin zu Greisen und dem kommentierenden Chor des antiken Dramas.
Überragend auch die Solisten. Nicole Chevalier (Lesbia, Sposa) überzeugt gesanglich. Überdies spielt sie das schnippisch, leichtsinnig, dann echt verliebte, bald aufdringlich mit einer eindringlichen Konsequenz. Oleksiy Palchykov (Catullus, Sposo) meistert souverän die unglaublichen Höhen in seiner Singpartie, gleiches gilt auch für Sandra Hamaoui, die ihre Rolle mit einer frappierend distanzierten Erotik umsetzt. Der Countertenor Jake Arditti macht aus dem Leidensgesang eines auf dem Bratrost brutzelnden Schwans, ein groteskes Kabinettstückchen. Cody Quattlebaum (Bariton) überzeugt als markige Verkörperung sexualisierter Männlichkeit mit enormer Bühnenpräsenz.
Bieito präsentiert eine Gesellschaft, die enthemmt dem Konsum und der Triebbefriedigung auf allen Ebenen verfallen ist. Wenn man bei der bombastischen Anrufung der Glücksgöttin „Fortuna“ diese durch den Begriff des Diktators ersetzt, wird ganz schnell die Brisanz dieser mutigen Inszenierung an der Staatsoper Hamburg einsichtig. Diese Sicht dürfte nicht jedem gefallen, ebenso wie die drastische Darstellung der Vergänglichkeit alles Körperlichen.
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