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Pianistische Herausforderung zwischen Struktur und Melos

Untertitel
Klavierzyklus „Zeichen“ von András Hamary an Heidelberger Musikhochschule uraufgeführt
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Über 200 Zuhörer (und ein Aufnahmeteam des SWR) waren in das Palais Prinz Carl in Heidelberg gekommen, um das Ergebnis einer Zusammenarbeit anzuhören, die an deutschen Musikhochschulen immer noch Seltenheitswert besitzt. Neun Studierende der Klavierklasse Professor Barbara Fry brachten den Zyklus Zeichen zur Aufführung, den ihre Lehrerin eigens bei dem Komponisten András Hamary bestellt hatte. Hamary, der selbst eine Professur an der Musikhochschule in Würzburg innehat und dort neben dem Unterricht, den er in Klavier und Kammermusik erteilt, auch das Ensemble für Neue Musik leitet, hatte die Probenarbeit der Heidelberger Studenten mit Erläuterungen und Ratschlägen aus der Perspektive des Komponisten wie des erfahrenen Interpreten Neuer Musik begleitet.

Die Spieler der Heidelberger Uraufführung, die je unterschiedliche Voraussetzungen mitbrachten und verschiedenen Studiengängen (von der Schulmusik bis zur künstlerischen Ausbildung im Hauptfach Klavier) angehörten, lösten ihre Aufgabe durchweg mit Verständnis und Klangsinn. Mit anderen Worten: Hamarys Stücke sind spielbar nicht nur für Spitzenpianisten und Spezialisten in Neuer Musik. Sie verlangen respektive bieten Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit neuen Spieltechniken und kompositorischen Verfahren der Avantgarde, aber sie stehen pianistisch wie kompositorisch zugleich in Verbindung mit der traditionellen Musik. Sie sind nicht übermäßig schwer, aber sie stellen hohe Anforderungen an das Differenzierungsvermögen der Spieler. So wie Hamarys Oper „Seid still“, die 1989 bei der Münchner Biennale uraufgeführt wurde, eine „richtige“ Oper ist (der Rezensent erlaubt sich den indiskreten Hinweis auf seine Ausführungen im Lexikon Komponisten der Gegenwart), so ist die Komposition Zeichen ein „richtiger“ Zyklus. Das zeigt sich in den ersten vier Stücken darin, daß jede Nummer dort anknüpft und weiterarbeitet, wo ihre Vorgängerin die musikalische Arbeit liegengelassen hatte. Im ersten Stück („Zeichen im Sand“) werden aus Sekundelementen Terzen erzeugt, entsteht aus Skalen Harmonik. Das zweite Stück („Flamme“) nimmt die Terzen auf, die im ersten produziert wurden, und entfaltet das Intervall der Sekunde, das dort vorausgesetzt war: zunächst eher abstrakt, als Transpositionsintervall, dann als gestalthaftes Element, kulminierend in melodischen Bildungen. Nr. 3 („Tastenbrecher“) operiert mit einem erkennbaren und wiedererkennbaren Terz-Sekund-Motiv und durchsetzt den Prozeß motivischer Verwandlung mit Skalenelementen. Im vierten Stück („Licht und Schatten“) schließlich erreicht die Konkretisierung und Gestaltwerdung der Terz-Sekund-Konstellation ihr Maximum derart, daß die beiden Intervalle zu einer veritablen Melodie zusammentreten, die von Resonanzklängen begleitet werden. Man kann den Weg, den die Musik vom ersten bis zum vierten Stück durchläuft, unterschiedlich beschreiben: als Gewinn an Gestalthaftigkeit und als Einbuße an innerer Vieldeutigkeit. Die erste Nummer ist abstrakter als die vierte, doch was letztere an klanglich-expressiver Direktheit voraushat, das schränkt zugleich die inneren Möglichkeiten der Musik ein. Doch wird diese Sicht des Entweder-Oder dem Sachverhalt nicht ganz gerecht. Tatsächlich sind es zwei Arten von Komplexität, die dort ineinander überführt werden: die innere der Musik und diejenige, die darin und dadurch besteht, daß Komposition mit und an der Musik arbeitet, die es in unseren Köpfen schon gibt. Hamarys Zyklus führt vor, wie musikalische Komposition an (in unseren Köpfen und Körpern) vorhandener Musik arbeitet; wie Komponieren seine Kraft dadurch beweist, daß es sich auf diese präexistierenden Muster einläßt und sich von ihnen wieder entfernt. Das fünfte Stück, das exakt die Mitte des neunteiligen Zyklus bildet, geht in Richtung des Sich-Einlassens auf vorgängige Modelle noch einen Schritt weiter. Die große Maschine hat ein Pattern der Unterhaltungsmusik zum Gegenstand. Dieses Pattern wird aus abstrakten Teilchen Schritt für Schritt zusammengesetzt, bis das Modell in ganzer Pracht erscheint und mit seiner elementarischen Gewalt den Hörer packt; anschließend wird es schrittweise de-komponiert, in den Ausgangszustand zurückgeführt. Und so wie dieses Stück im kleinen, so verläuft der Gesamtzyklus im großen: von der strukturellen Differenzierung hin zur groben, realen Musik und zurück in den Zustand eines Komponierens, das Distanz hält zum packenden Klang und das zum Hineinhören verleitet. Diese Akzentverschiebung von Struktur zu Melodie, von Differenzierung zum Pattern spiegelt sich in der veränderten Rolle der programmatischen Titel, die den Stücken, in Anlehnung an das Vorbild der „Préludes“ von Debussy, jeweils nachgestellt sind. Wo die Musik ihr strukturelles Spiel vergleichsweise „rein“ entfaltet, fügen die beigegebenen Stichworte den vielfältig verschränkten instrumentalen Bezugsebenen eine weitere, bildhafte hinzu und machen sie noch komplexer. Wo die Musik sich der Welt fixierter Bedeutungen und standardisierter Ausdruckscharaktere aussetzt, wird die beengende Gewalt der Eindeutigkeit durch die Titel noch verstärkt. Beim Rückweg in die Welt des Strukturellen erscheinen in zwei Fällen (Nr. 6 „Auf dem Ast des Nichts“ und Nr. 7 „Im Schritt“) zusätzlich zum knappen Titel Auszüge aus Gedichten (von J. Attila respektive M. Radnóti). Auf diese Weise wird die sprachliche Ebene in sich differenziert und der Kurzschluß von Bedeutung, Sprache und Musik wieder gelöst. Als Neue Musik, die ein größeres Publikum anzusprechen vermag, ohne an Stringenz irgend nachzulassen; die sich nicht an den Spezialisten, sondern an Pianisten wendet, die an präzisen musikalischen Aufgabenstellungen interessiert sind; als Musik, die überdies unter dem Aspekt von Substanz wie Wirkung geeignet ist, den Ausführenden auch in Prüfungen in günstigem Licht erscheinen zu lassen, sei Hamarys jüngste Komposition der Aufmerksamkeit von Pianisten und Studierenden, von Hochschul- und Musikschullehrern dringend empfohlen.

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