Die Reihe musica non grata der Staatsoper Prag widmet sich mit Konzerten, Opern und wissenschaftlichen Veranstaltungen dem Vermächtnis von Komponistinnen und Komponisten, „die für das Musikleben der tschechoslowakischen Zwischenkriegszeit wichtig waren und vom Nationalsozialismus oder aus religiösen, rassischen, politischen oder geschlechtlichen Gründen verfolgt wurden.“ Im November erweiterte sich der Radius: Calixto Bieitos Prager Inszenierung von Erwin Schulhoffs „Flammen“ gastierte in Brünn, während die Produktion von Hans Krásas Oper „Verlobung im Traum“ (Zásnuby ve snu) des Mährisch-Schlesischen Nationaltheaters Ostrava für zwei Vorstellungen an die Prager Staatsoper kam.
„Der ferne Klang“ von Franz Schreker, „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger und die Uraufführung des Opernfragments „Malva" in einem Festival zum 150. Geburtstag seines Komponisten Alexander Zemlinsky 2022 – die Palette dieser musikalischen Handschriften und Sujets ist erstaunlich. Wie Anfang des 20. Jahrhunderts Stilkategorien und ästhetische Positionen mit zunehmender Diversifizierung in Fluss kamen, wird in der Reihe musica non grata plastisch. Definitionen wie Spätromantik, Unterhaltungsmusik, Aufbruch contra Konvention und dramaturgische Innovation lassen sich hier für jedes Werk nur noch gesondert spezifizieren. Bis zu Paul Abrahams Operette „Ball im Savoy“ und Schulhoffs Jazz-Oratorium „H.M.S. Royal Oaks“ reanimiert musica non grata einen erstaunlichen Kosmos. „Verlobung im Traum“ bringt eine weitere besondere Farbe in diesen Mix .
So ganz unbekannt ist die erste der beiden Opern Hans Krásas nicht. „Verlobung im Traum“ erschien 1998 in der verdienstvollen Decca-Reihe Entartete Musik mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin unter Lothar Zagrosek und erlebte nach der Wiederentdeckung in Prag 1994 zum Beispiel eine Aufführung in Karlsruhe 2014. In der sensationellen Premieren-Serie des Neuen Deutschen Theaters Prag (1921 bis 1946) stand die Uraufführung 1933 unter George Szell zwischen den Produktionen von Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ und Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“. Krásas 1942 im jüdischen Waisenhaus von Prag uraufgeführte Kinderoper „Brundibar“ wird derzeit häufiger gespielt als „Verlobung im Traum“.
Das wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so schnell ändern. Fast 90 Jahre nach der Uraufführung scheint die opulente Musik wie die Handlung in einem eigenwilligen artifiziellen Dämmerzustand befangen. Eine Wiederaufführung in Prag, das bekanntermaßen nächtliche, magische, abgründige Sphären hat, schafft für Krásas in paradoxer Überlappung üppig-sprödes Werk einen aparten Kulturkitzel. Es ist fast wie bei Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“: Rudolf Thomas und Rudolf Fuchs erinnerten in ihrem Textbuch nach Dostojewskis Erzählung „Onkelchens Traum“ durchgängig daran, dass sich die Handlung aus Erzählbausteinen ohne Anspruch auf Wahrheit und Folgerichtigkeit zusammensetzt. Hörer entscheiden selbst, was sie für möglich erachten oder als inkohärente poetische Fiktion wahrnehmen. Das kann in die Irre und damit zu einer genussvollen Desorientierung führen. Am besten lässt man sich in die handwerklich äußerst gekonnte Musik und deren Assoziationsangebote fallen, entwickelt Spaß an deren absichtsvollen Verwirrnisläufen. So steigert man die Genussfähigkeit für Krásas musikalische Schönheiten und deren ständige Kippmomente zwischen Originalität und vorsätzlichem Eklektizismus. Krásas Musik entstand Anfang der 1930er Jahre und damit in jener Zeit, als erst Franz Kafka und dann Gustav Meyrink mit einem ständigen Wechsel zwischen realen, fiktiven und phantastischen Momenten in der Belletristik neue Ebenen der Satire und Absurdität erschlossen. Schade, dass Krása mit den für „Verlobung im Traum“ entwickelten Mitteln nicht zu ihnen gestoßen war.
Krásas entscheidende musikpoetische Dimension ist seine in dieser Form unwiederholbare lyrische Gewitztheit. Jiří Nekvasil übertreibt in seiner Inszenierung die Figurenkonstellationen mit effektvoller Leichtigkeit. Die Typen aus Dostojewskis Erzählung sind wichtiger als das Detailgeschehen. So wird Krásas Oper wie Zemlinskys in Prag für Februar 2023 geplante Opernkomödie „Kleider machen Leute“ zur Burleske über bürgerliches Leben und seine Störfälle, Partnerwahl, familiäre Einflussnahme und letztlich Happyend. Eine schöne Schaumschlägerei, für die Daniel Dvořák einen an Kinderillustrationen erinnernden Salon baute, in dem Marta Roszkopfová die Figuren mit hybriden Biedermeier- und Gründerzeitkostüme ausstattete. Immer wieder kommt Dostojewski ins Geschehen – als gemaltes Porträt und als Gesichtslarven des Tanzensembles. Die Choreographie von Jana Tomsová und Yago Catalinas Heredia setzt zu den Salonszenen ein filigran verspieltes Gegengewicht. Gelacht wurde aber nur wenig und von Seite des Publikums stattdessen mehr um Verständnis der Handlung gerungen. Die Diktion der Aufführung in deutscher Sprache war nicht optimal, Übertitel trugen offenbar nur wenig zum tieferen Verständnis bei.
Dem Chor und dem Orchester des Mährisch-Schlesischen Nationaltheaters Ostrava liegt diese Musik mit ihrer Janáček-artigen Beschwingtheit sehr. Krása ist ein verschwenderischer Melodiker wie im großen Zitat der Arie „Casta Diva“ aus Bellinis „Norma“ und einem Ensemblesatz darüber, wie er Richard Strauss nicht besser gelungen wäre. An manchen Stellen wirkt Krásas Werk über-instrumentiert. Herauskommt ein melodischer Mix aus Liebe zur Vergangenheit, die Krása aber nicht mehr genügt und einem Aufbruch, der ihn nicht ganz zur atonalen Musik führt. Neben der Primadonna Veronika Rovná ragten aus dem Ensemble als Persönlichkeiten und Stimmen Roman Vlkovič (Archivar der Stadt Mordassow) und Jorge Garza (Paul) heraus. Grandios mit einer faszinierend realitätsflüchtigen Ebene agierte Pavol Kubáň und wurde so zum eindrucksvollsten Mitwirkenden des Abends. Marek Šedivý und das Orchester des Mährisch-Schlesischen Nationaltheaters betonten mit fülliger Beschwingtheit eher die arios-melodischen Strukturen als Krásas pointierendes Parlando. Dieser zulässige Verzicht auf Präzisierung der schwer zugänglichen Handlungslogik intensivierte die Realitätsferne und poetische Groteske des Werks. Wenn in diesem Falle nach Fallen des Vorhangs also viele Fragen offen bleiben, ist das ein künstlerisches Plus.
Für das tschechische Jahr der Musik 2024 bereitet das Mährisch-Schlesische Nationaltheater Ostrava sämtlichen Opern von Bedřich Smetana vor. Zyklische Gesamtaufführungen sind vom 2. bis 11. März 2024 und vom 2. bis 12. Mai 2024 angekündigt.
- Besuchte Vorstellung: 20. November 2022