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Reynaldo Hahn, Le Marchand de Venise am Theater Bielefeld. Foto: Bettina Stöß
Reynaldo Hahn, Le Marchand de Venise am Theater Bielefeld. Foto: Bettina Stöß
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Polystilistisch: Reynaldo Hahns „Le Marchand de Venise“ am Theater Bielefeld

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Es hat lange, sehr lange (wenngleich nicht kontinuierliche) Tradition am Theater Bielefeld, Opernraritäten auszugraben, Uraufführungen zu präsentieren, Werke aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Erst im Januar 2017 kam Marc-André Dalbavies „Charlotte Salomon“ auf die Bühne – ein Stück aus dem Jahr 2014 über die von den Nazis 1943 in Auschwitz ermordete Malerin. Jetzt steht mit „Le Marchand de Venise“ eine der sechs Opern im Mittelpunkt, die Reynaldo Hahn (1874-1947) komponiert hat, die inzwischen aber allesamt dem Vergessen anheimgefallen sind. „Le Merchand de Venise“, 1935 in Paris uraufgeführt, erlebt in Bielefeld gar ihre deutsche Erstaufführung!

Im Zentrum der Oper stehen der reiche jüdische Geldverleiher Shylock – und Antonio, der etwas schwermütige venezianische (und christliche) Kaufmann. Reynaldo Hahn und sein Librettist Miguel Zamacois folgen weitgehend der literarischen Vorlage William Shakespeares, zu dessen Lebenszeit der Hass auf Juden noch anders zu werten war als im Jahr 2017 nach und mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Bei Shakespeare fallen da schon krasse Töne. Kann, ja darf man die heute noch eins-zu-eins auf die Opernbühne bringen? Ja – wenn man den Hass nicht auf das Jüdische projiziert sondern vielleicht auf das durch und durch Kapitalistische der heutigen Gesellschaftsstruktur – und auf Shylock als einen seiner Repräsentanten.

Regisseur Klaus Hemmerle deutet diese Verlagerung an, wenn er den letzten Akt der Oper auf dem Parkett in einem Börsensaal spielen lässt. Dort, wo auf riesigen Bildschirmen Aktienkurse blinken und Zahlen abwechselnd in rot und grün aufleuchten, besteht Shylock darauf, dass geschlossene Verträge zu erfüllen seien. In diesem Fall: Antonio soll ein Pfund seines eigenen Fleisches hergeben, weil er seinen Kredit nicht termingerecht zurückzuzahlen in der Lage ist.

Just diesen Kredit hatte Antonio seinem Freund Bassanio weitergereicht, damit dieser sich um die Gunst der von ihm geliebten wohlhabenden Waisen Portia bemühen könne. Und da sind wir beim zweiten Strang dieser Oper: die Hoffnung auf erfüllte Liebe. Die gleich dreimal an diesem Abend in Erfüllung geht! Auf welche Weise, das schlägt man am besten nach bei Shakespeare.

Reynaldo Hahn jedenfalls hat ein mehr als abendfüllendes Stück daraus gemacht, das Tragisches und Komödiantisches miteinander verbindet. Tragisches, weil Shylock zum armen Schlucker wird. Komisches, weil putzige Sachen passieren, etwa während der Werbung der Prinzen von Marokko und Aragon um die schöne Portia beim „Kästchenrätseln“, von der Regie in die 1930-er Jahre verlegt. Da gibt‘s einen nordafrikanischen Schleiertanz und eine temperamentvolle andalusische Performance (Gender-Wechsel inklusive), herrlich anzusehen! Bitterböse, gleichwohl komisch, wenn Shylock in Erwartung der in Aussicht stehenden Fleischesbeute gleich schon den OP-Tisch mit auf die Bühne schiebt, sich Latex-Handschuhe überzieht und sein Köfferchen mit allerlei gewetzten Messern öffnet, um Antonio zu sezieren. Aber so weit kommt es ja gar nicht. Stattdessen, wie gesagt, drei glückliche Paare, die sich gesucht und gefunden haben!

Reynaldo Hahn, in früher Jugend ein in den Pariser Salons be- und geliebtes Wunderkind, war in vielen Stilen zuhause. Das merkt man auch seinem „Kaufmann in Venedig“ an. Zunächst ist der Massenet-Schüler (und Ravel-Kommilitone) ganz „Kind seiner Zeit“, macht aber auch immer wieder Anleihen: Puccini klingt mit, dann schwelgen, charmant wie bei Brahms, die Violinen in Terzen- und Sextenseligkeit, fußend auf Pizzicati der tiefen Streicher. Die emotionalen Vibrationen der Liebesnacht aus Wagners „Tristan“ schwingen nach, ein satter Blechbläser-Choral klingt wie englische Spätromantik, kontrapunktisch Gewobenes mutet an wie Max Reger, wenn dieser sich von Johann Sebastian Bach hatte inspirieren lassen. Und ganz oft wird die Operette spürbar, der Hahn ja anhing und die er neu zu beleben trachtete. Eine vielfarbige Klangpalette also, die da bedient wird.

Pawel Poplawski, 1. Kapellmeister des Theaters Bielefeld, entfaltet all diese Farben ganz wunderbar und umschifft fast alle jener rhythmischen Klippen, die in dieser Partitur zu umschiffen sind. Gesungen wird in Bielefeld ganz ausgezeichnet! Sarah Kuffner ist die umworbene Portia, höhensicher und ausdrucksstark, Frank Dolphin Wong der verliebte Bassanio; Nienke Otten und Lianghua Gong (ein strahlend schöner Tenor) finden als Jessica und Lorenzo zurinander. Nohad Becker (Nérissa) und Mark Adler (Gratiano) werden als drittes Pärchen glücklich. Moon Son Park stattet die Rolle des Kaufmanns Antonio facettenreich aus, Bjørn Waag schlüpft stimmstark und in seinen Wutausbrüchen absolut überzeugend in die Rolle des Shylock. Auch die kleineren Partien sind bestens besetzt, Hagen Enkes Chöre stimmlich gut disponiert.

Ob sich Hahns „Kaufmann“ auch zukünftig wird behaupten können? Das sei dahingestellt.

  • Weitere Termine: 7. und 21. Mai, 1. und 15. Juni, 7. Juli 2017

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