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Grimm! - Erik Biegel, Susanne Krassa. Foto: Lutz Edelhoff
Grimm! - Erik Biegel, Susanne Krassa. Foto: Lutz Edelhoff
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Potential zum Dauerbrenner: Lunds & Zaufkes Musical „Grimm!“ in Erfurt

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Dieses wunderbare Opus entstand für das Kinder- und Jugendtheater Next Liberty in Graz und erhielt nach der Uraufführung (2014) den Deutschen Musical-Theater-Preis in der Kategorie Bestes Buch. Von der CD-Einspielung der Neuköllner Oper mit dem Musicalstudiengang der Universität der Künste Berlin brennt man schon wieder eine neue Auflage. In Erfurt kommt „Grimm!“ nach Inszenierungen in Wien und Schwedt erstmals auf eine ganz große Opernbühne. Auch da ist der Eindruck glänzend, bezwingend, beglückend. Wenn es eine Gerechtigkeit in der Theaterwelt gibt, wird diese Produktion zum Dauerbrenner.

Etwas ist faul im Märchenwald, den man sich seit Ludwig Richter Zeichnungen eigentlich als deutsche Ideallandschaft vorzustellen hat. Der alte Hofhund Sultan (Kammersänger Máté Sólyom-Nagy auf ungewöhnlicher Streunerei) schaut aus wie ein Sheriff. Großmutter Eule (Anja Augustin) ist eine attraktiv verblühende Saloon-Sensation und Schweinchen Wild (Julia Steingaß) läuft dezent punkig durch den Wald und ihre retro-rustikale Bleibe. Der einzige Schutz dieser zwar vierpfotigen, sich aber auf den beiden Hinterbeinen durchs Dorfleben und seine Doppelmoral schlagenden Menagerie ist eine Hundeklappe in der absurd hohen Brettermauer, durch die keine einzige Ritze den Blick nach draußen oder drinnen freigibt. Da geht es ständig Raus-rein-raus-rein in den als gefährlich verrufenen und doch so dunkel lockenden Wald. Die Häuser haben keine Holzbalkone mit Geranien, dafür amerikanisches Südstaatenflair mit Speicherturm im Hintergrund. Das hat Georg Burger in seinem Bühnenbild richtig gut verfremdet, besser verpixelt. Wehe dem, der die Nachtigall stört und schlafende Hunde weckt!

Alternative alternative Fakten

Peter Lunds und Thomas Zaufkes Musical heißt nicht nur „Grimm!“ wie der hier gute und etwas hippiemäßig verbummelte Wolf (Raphael Köb), um den es hier vor allem geht. Es entlarvt auch Erzählstrecken aus einem der weltweit beliebtesten Bücher als alternative Fakten. Der deutliche wie verschmitzte Regisseur Stephan Beer, die lockere Choreographin Pascale Chevroton und der lieber ausschwingende als motorisch swingende Dirigent Peter Leibold geben der ganzen gespreizten und fassadenhaften Musicalszene einen handfesten Korb. Da zieht die große Combo des Philharmonischen Orchesters Erfurt kollegial mit. Sie alle zusammen erfinden die Gattung quasi neu und versetzen sie in ein fast verloren geglaubtes Terrain, in dem märchenhafte Milieustudie und Offenbachiade viel näher sind als Disneyland oder „Into The Woods“. Natürlich erkennt man ein bisschen Bodensatz aus Iring Fetschers Märchenverwirrbuch und von Angela Carters nach dem scharfen Wolf lüsternen Rotkäppchen. Das Dorf in „Grimm!“ ist sicher bei weitem nicht so heftig wie Juli Zehs „Unterleuten“, die Ansätze sind aber vor allem beim fortschreitenden Konflikt zwischen Sheriff Sultan und Wolf, zwischen echter Dichtung und potenzieller Wahrheit durchaus vorhanden. Aber das ist so charmant hingetupft und in den trefflichen Dialogen so elegant abgefedert, das man diesem Werk, dass alle Vorzüge von Toleranz, Verständnis des Unbekannten und Wohlsein in der Diversität auflistet, nur Freude haben kann.

Kinder werden ernst genommen

Dazu werden Kinder ernst genommen. Nur einen ganz kleinen Kick bräuchte es, um vor die Altersempfehlung „ab 8“ noch eine „1“ setzen zu müssen. An Deutlichkeit ihres sexuellen Notstands als alleinerziehende Mutter lässt die Geiß (Susanne Krassa) nichts zu wünschen übrig, wenn sie – nach außen posaunt diese bigotte Ziege aber anderes herum – den Wolf zur horizontalen Paargymnastik verführen will. Die kleine Spießerwelt gerät aus den Fugen, als Schweinchen Dick(-linde) alias Feline Zimmermann feststellt, dass sie nicht dick ist, und darüber den logischen Schluss zieht, das ihr dreist-böses Geschwisterchen den Namen Schlau zu Unrecht trägt. Dieses müsste eigentlich „Brutalo“ heißen und Erik Biegel zeigt die Abgefeimtheit, dass er sogar die rosigen Hinterbacken von Schweinchen Didi (Markus Fetter) in einer Intrige Hund und Wolf zum vollmundigen Biss anbietet.

Hier sprengen Autoren und Regie die Leichtigkeit, auf das Dorf fällt ein beklemmender Schatten und da sind auf einmal die Faschistenschweine aus Orwells „The Animal Farm“ nicht fern. Kein Wunder, dass Dicklinde keinen Bock mehr hat auf die rosa Träume im Schweinchenbau, mit ihrer Flamme Wild eine dezent lesbische Partnerschaft anbahnt und damit die asexuelle Ménage à trois der drei ferkeligen Geschwister zum Platzen bringt.

Rotkäppchen (Catherine Chikosi) ist hier gerade vierzehn, lässt sich lieber Dorothea rufen und erklärt den Mythos um ihren Waldspaziergang zur „Lügenpresse“. Sie kann sich offenbar nicht entscheiden zwischen „Der Hund ist der beste Freund des Menschen.“ oder „Der Wolf ist der beste Freund des Menschen.“ Denn neben ihrem lieben Rex, dem sympathischen Freund des Sheriffs, besser Bürgermeisters (Lukas Weinberger) erobert sich Wolf (Ise-)Grim(m) seinen festen Platz in ihrer Nähe und vielleicht sogar in ihrem Herzen – realistisch polyamourös also! Und schließlich kommt Rotkäppchen auf die Spur von alten Kumpaneien, die in jähe Rivalität umschlugen. Als diese öffentlich werden, erhält die Gemeinschaft der Tiere die Chance, mit dumpfen Vorurteilen, sozialer Kontrolle und dem stumpfen Nachplappern von Plattitüden ein für alle Male Schluss zu machen…

Noch ist diese Musical-Schatztruhe noch nicht so bekannt und deshalb soll hier niemand um das Vergnügen gebracht werden, sich vom Schluss überraschen zu lassen. Die große Erfurter Bühne gibt dem Stück im Vergleich zu kleineren Theatern auch eine andere Dimension. Denn da wird kenntlich, dass die Hundeklappe nicht nur ein Engpass in die Freiheit, sondern ebenso Schutz vor den möglichen Gefahren im großen Raum ist. Zwischen kleiner und großer Welt verbindet die Musik. Sogar Songs wie „Die wirklich wahre Geschichte vom alten Wolf“ oder „Geh‘ niemals in den Wald“ nehmen sich an keiner Stelle so richtig ernst. Das rundum glänzende Erfurter Ensemble und nicht zuletzt die Stars aus dem Kinderchor, die sich in die – ja genau! – sechs jungen Geißlein verwandeln, machen aus „Grimm!“ eine feine Sause mit wichtiger Botschaft.

  • „Grimm!“ – Theater Erfurt: Wieder am Fr 23.02./19:30,  So 04.03./15:00,  Mo 05.03./10:00, Fr 23.03./19:30,  So 15.04./15:00,  Mo 16.04./10:00,  Sa 28.04./18:00

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