„Diese Pädagogen!“, seufzte ein Zuhörer. Soeben hatte sich Wolfgang Lessing, Professor für Musikpädagogik in Dresden, gefragt, wie man sich im Musikunterricht sinnvoll Wolfgang Rihms „Seraphin. Versuch eines Theaters“ nähern könne. Gerade in dem Bemühen, die Hörer in den Denkprozess mit hineinzunehmen, zeigte sich die besondere Qualität dieses Vortrags. Nicht selten hatte man nämlich auf der 64. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung den Eindruck, die Musikpädagogik sei eher ein lästiges Anhängsel.
Dabei führt die Neue Musik in der Schule weitgehend eine Randexistenz. Den Lehrkräften fehlt die Erfahrung, und oft haben sie Berührungsängste. Ein neues Konzertpublikum aber wächst nicht von selbst. Beeindruckend war in diesem Zusammenhang, was Peter Ausländer über 35 Jahre experimentelles Musiktheater mit Kindern und Jugendlichen zu berichten wusste.
Manch einem der Vortragenden hätte ein wenig Schulerfahrung zu mehr gedanklicher Klarheit und besserer Anschaulichkeit verholfen. Thematisch indessen traf die Tagung unter dem Thema „Neue Musik in Bewegung – Musik- und Tanztheater heute“ ins Schwarze. Die Vorträge waren gut besucht, das Interesse am Thema lebhaft und breit gefächert. Sitzungsleiter Jörn Peter Hiekel benannte zu Anfang eine Reihe von maßgebenden Referenz-Werken. So sinnvoll dieser Versuch der Orientierung war, so schwierig blieb im Folgenden die Verständigung. Immer wieder fragte man sich: Nach welchen Kriterien wird hier überhaupt geurteilt? Dass mit Albrecht Wellmer ein ausgewiesener Philosoph sich des Themas „Musiktheater heute“ annahm, brachte etwas Übersicht. Unter den Stichworten „Regietheater“, „Postdramatisches Theater“ und „Einsatz neuer Technologien und Medien“ charakterisierte er drei zentrale Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit.
Inwieweit allerdings zeitgenössische Kunst die Tradition tatsächlich zu erhellen weiß, wäre eingehender zu untersuchen. Denn nicht jede körperliche Verrichtung auf der Bühne, nicht jede großformatige Videoinstallation, die sich als Befreiung von bürgerlichen Kunsttempel-Traditionen feiern lässt, erweitert den Horizont. „Regietheater“ kann ebenso für eine subtile, in Tiefenschichten eines Werkes vordringende Interpretation stehen wie für ein spektakuläres Feuerwerk schlagzeilenträchtiger, aber unausgegorener Einfälle. Mit dem (von Hiekel eingangs zitierten) Begriffspaar „Präsenzkultur“ versus „Sinnkultur“ hat der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht sicher zwei entscheidende Stichworte zum Verständnis des Gegenwartstheaters geliefert. Doch natürlich hat im Musiktheater neben der narrativen Komponente schon immer die sinnliche Präsenz eine entscheidende Rolle gespielt. Allzu oft aber entsteht hingegen in der Bühnenpraxis der Eindruck, der Sinn einer „postdramatischen“ Aufführung liege vor allem im Erfindungs- und Selbstdarstellungsdrang eines Regieteams.
„Die Komponisten werden immer philosophischer und scheitern auf theatralischer Ebene“, formulierte während der Tagung ein Diskussionsteilnehmer. Nicht wenige Aufführungen moderner Oper scheitern tatsächlich am Spagat zwischen einem Werk, das Sinnfragen thematisiert, und einer Regie, die sich der Bedeutung verweigert.
Vielleicht ist tatsächlich das Tanztheater diejenige Gattung, die am ehesten auf die Sinnkrise der modernen Gesellschaft reagieren kann. Ursula Brandstätter (Berlin) überzeugte in ihrem Vortrag über „Musik und Bewegung. Wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse – exemplifiziert und falsifiziert an ‚Jagden und Formen‘ von Wolfgang Rihm und Sasha Waltz“ ebenso wie Stephanie Schröter (Bayreuth) mit dem Thema „Tendenzen der Interaktion von Tanz und Musik im Theater“. Engagiert versuchten beide, die aktuelle Entwicklung und Bedeutung von Tanztheater sinnvoll auf den Begriff zu bringen.
Nicht von ungefähr spielte Martin Schläpfer, Ballettchef der Deutschen Oper am Rhein, in Schröters Vortrag eine große Rolle. Kaum ein Choreograph dürfte derzeit so intensiv an der Nahtstelle von Bewegung und Musik arbeiten wie er. Was im Sprech- und Musiktheater oft aufgesetzt wirkt, nämlich die Brechung von Zusammenhängen und die Inszenierung von Körperlichkeit, tut Schläpfer auf eine ästhetisch überzeugendere Weise. Sein eher abstrakter Ansatz erspart es ihm, in der Dekonstruktion stecken zu bleiben. Es gibt bei ihm keine große Bühnenerzählung, sondern viele kleine Geschichten, die der Zuschauer für sich fruchtbar machen kann. Wie aufmerksam dabei das Ballett-Publikum auch Neuer Musik zuhört, ist frappierend.
Ein wirklich neues „Format“ von Musiktheater hat offensichtlich der Komponist José M. Sánchez-Verdú 2006 mit seiner Kammeroper „Gramma – Gärten der Schrift“ entwickelt (siehe auch nmz 6/06). Das Werk thematisiert die Bedeutung der Schrift und die Aura von Kunst. Das Publikum sitzt inmitten des Orchesters und blättert in einem kunstvoll gestalteten Buch, das zugleich die Partitur darstellt. Die Umwendegeräusche sind einkomponiert, doch der Zuhörer behält die Freiheit, eigenständig vor- und zurückzublättern. Sánchez-Verdú berichtete ganz unprätentiös und ohne viel Aufwand von seinem eigenen Werk – und machte damit erzählend Appetit auf Musiktheater.