Für den gebürtigen Mainzer Volker David Kirchner war die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden auf der anderen Rhein-Seite sicher wichtiger, was kompositorische Entwicklung und Anerkennung betrifft. Um so mehr dürfte ihm gefallen haben, dass der Landesmusikrat Rheinland-Pfalz ihn nun im Mainzer Staatstheater doppelt ehrte: Nicht nur mit dem (undotierten) „Preis für die Verdienste um die MusikKultur“, sondern auch mit der Uraufführung seines jüngsten Orchesterwerks „Der mythische Fluss“ durch das Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz.
Die engagierte Laudatio hielt der Koblenzer Oberbürgermeister Joachim Hofmann-Göttig, der aus seiner Zeit als Staatssekretär im Mainzer Kultusministerium Kirchner beruflich und freundschaftlich verbunden ist. Lange gehörte der Komponist dem künstlerischen Beirat der rheinland-pfälzischen Landesstiftung Villa Musica an. „Lasst uns die Brücken schlagen zum traditionellen Publikum“, zitierte Hofmann-Göttig Kirchners Strategie für den Umgang mit zeitgenössischer Musik in dem vor 22 Jahren für Experimentelles noch wenig aufgeschlossenen Bundesland zwischen Rhein, Pfälzerwald und Eifel. Persönlich würdigte er den Komponisten als geradlingen „Mann mit Ecken und Kanten.“
Kirchner nahm die lobenden Worte mit Humor: „Ich wusste gar nicht, was für ein toller Mensch ich bin.“ - und blieb seinem Ruf treu, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Hier sitzt die Zukunft“, wies der 72-jährige auf das rings um ihn sitzende Landesjugendorchester. Er hoffe, dass diese jungen Menschen auch noch eine Chance auf eine Orchesterstelle hätten – angesichts „der bekennenden Gegner der Hochkultur in den oberen Etagen verschiedener Kultusministerien“. Deutschland sei dabei, mit Orchester-Auflösungen sein kulturelles Kapital zu verspielen. Deswegen, so wandte er sich ans Publikum: „Protestieren Sie, schreiben Sie Briefe, stehen Sie auf!“
Das Konzert des Landesjugendorchesters und Kirchners Orchesterstück mittendrin standen geradezu exemplarisch für Kirchners Ansatz, auf das Publikum zuzugehen. Eingebettet war der „Der mythische Fluß“ zwischen zwei andere „Wassermusiken“: Felix Mendelssohns Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ und Robert Schumanns „Rheinische Sinfonie“. Nicht nur mit den Satzbezeichnungen – „Der mythische Fluss“ – „Nebel“ – „Schumanns Rheinfahrt: Poem“ - , sondern auch mit Anklängen an Schumann, Wagner und Debussy ruft das Uraufführungswerk die Rhein-Bilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihr Weiterleben in der nationalen Ikonographie wieder auf. Das klingt zumeist geheimnisvoll, oft düster und eher gestenhaft als melodisch. Nur im ersten Satz leuchten zwischen bedeutungsvoll-gefährlichen Signalen auch zarte Ländler-Ankläng auf, und selbst die Anspielungen auf Schumanns „Rheinische Sinfonie“ im Finale verraten wenig Überschwang, sondern künden eher vom traurigen Ende des Komponisten und patriotischer Rhein-Aufwallungen.
Dass der Orchestersatz dabei recht transparent gehalten ist, erleichtet dem Hörer das Entwickeln und Weiterspinnen von Assoziationen. Junge Leute hören so etwas oft als imaginären Soundtrack – mit ihren eigenen oder von vielerorts geliehenen Bildern im Kopf. Und so schlägt dann „Der mythische Fluss“ eine Brücke vom erfahrenen Wagner-Kenner zum Jugendlichen, der den „klassischen Orchestersound“ nur aus den symphonischen Filmmusiken von John Williams oder Hans Zimmer kennt.
Gerhard Rohde hat kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf das Problem hingewiesen, dass Musik zunehmend als bloße Unterhaltung gesehen werde; sie sei aber auch wichtiger Bestandteil der Geistesgeschichte. Kirchners Musik lädt ein, in diese Tiefendimension vorzudringen, und so passt es denn auch, dass der Landesmusikrat das zweite „K“ in MusikKultur bewusst groß schreibt.
Dass beim Hören der Eindruck entstand, der Strom fließe unaufhörlich weiter – egal was an seinen Ufern und in den Köpfen der Menschen vorgeht –, dieser musikalische „rote Faden“ wäre nicht denkbar gewesen ohne eine beachtliche Spannkraft der jungen Musikerinnen und Musiker und nicht ohne die sorgfältige Probenarbeit des ständigen Gastdirigenten Klaus Arp und der ihn unterstützenden Dozenten. Während man bei Kirchner den Eindruck hatte, hier sitze wirklich alles auf den Punkt genau und mit Ausdruck, gelangte das seit dem Vorjahr deutlich verjüngte LJO mit dem „Rahmenprogramm“ an seine Grenzen. Mendelssohn und Schumann, aber auch die hintersinnige Zugabe vom „Konkurrenzstrom“ (Johann Strauß' „Donauwalzer“) hätten in puncto Präzision, Phrasierung und Transparenz wohl noch Probenzeit benötigt. Auch wenn die anspruchsvolle Uraufführung dann doch ihren Preis hatte – die Begeisterung der jungen Leute beim Spiel war durchweg bewegend und ansteckend.