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Lehrstück in Augsburg. Foto: © Diana Deniz
Lehrstück in Augsburg. Foto: © Diana Deniz
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Provokation ohne Lehre. Bert Brechts und Paul Hindemiths „Lehrstück“ von 1929 beim Augsburger Brecht-Festival

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Bei der Uraufführung ein Skandal, später von Brecht umgearbeitet, aber kaum jemals aufgeführt: Das 1929 für das Festival „Deutsche Kammermusik“ in Baden-Baden komponierte „Lehrstück“ von Paul Hindemith und Bertolt Brecht stand jetzt als Eigenproduktion auf dem Programm des Augsburger Brecht-Festivals. Brechts Enkelin Johanna Schall inszenierte die Urfassung – und bei der berüchtigten Clown-Szene fiel niemand in Ohnmacht.

Ob „der Mensch dem Menschen hilft“, ist die Leitfrage des „Lehrstücks“. Die von Karl Valentin inspirierte Clownszene, betitelt als „zweite Untersuchung“, hat dabei den Stellenwert eines grotesken Zwischenspiels. Zwei kleine Clowns „helfen“ dabei einem übergroßen Kollegen, genannt Herr Schmitt, der über Schmerzen in verschiedenen Körperteilen klagt, indem sie ihm die schmerzenden Körperteile nach und nach absägen. Am Ende schrauben sie ihm schließlich sogar den Kopf ab, was Herrn Schmitt allerdings nicht daran hindert, sich weiter zu beschweren. Aus heutiger Sicht erscheint er als die Karikatur eines hilflos unentschiedenen, realitätsblinden Durchschnittsmenschen, der sich von falschen Freunden das Falsche einreden lässt – ähnlich, wie in der Konstellation „Biedermann und die Brandstifter“ in Max Frischs Schauspiel.

Hindemith rahmt und unterbricht diese Episode immer wieder mit Foxtrott-inspirierter Zirkus-Musik, und entsprechend inszeniert Johanna Schall eine groteske Zirkus-Nummer mit einer übergroßen Holzpuppe, deren Sprecher am Ende selbst schallend über den groben Spaß lacht. 1930 hatte das Brecht selbst drastischer inszeniert. Der Schauspieler Theo Lingen, Darsteller des Herrn Schmitt, musste mit einem Blasebalg bei jeder Amputation Blut spritzen. In der Vortragsreihe zum Brecht-Festival machte der Augsburger Literaturwissenschaftler Franz Fromholzer auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund aufmerksam: Als Folge von Kriegsverletzungen war es im 1. Weltkrieg häufig zu Amputationen gekommen, und Kriegsversehrte gehörten zum alltäglichen Straßenbild. Die Szene dürfte von daher um einiges zynischer gewirkt haben.

Doch vermutlich war die Clowns-Episode nur mehr der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Anstößig ist das Stück schon in der Darstellung der Hauptsache. Da geht es um einen abgestürzten Flieger – im Kontrast zu Brechts ebenfalls 1929 entstandenen „Lindberghflug“ und in Anlehnung an das Schicksal des französischen Piloten Charles Nungesser, der 1927 beim Versuch einer Atlantik-Querung verschollen blieb. Brecht könnte sich freilich auch an die letzten Kriegsjahre erinnert haben. In unmittelbarer Nachbarschaft seiner Heimatstadt Augsburg nahm damals die Fliegerschule Gersthofen den Betrieb auf, und nicht selten stürzten unerfahrene Flugschüler mit ihren für den Kriegseinsatz bereits ausgemusterten Maschinen in der Umgebung von Augsburg tödlich ab.

Hindemith besetzt den gestürzten Flieger mit einem Tenor, dem als weitere Solostimme ein Bariton aus dem vierstimmigen Chor gegenübertritt. Dazu kommt eine Sprecherin. Johanna Schall hat die Konstellation auf der schlichten Aulabühne des Augsburger Stettner-Instituts über die zwei Männer (Benedikt Bader, Wolfgang Wirsching) hinaus auf zwei Frauen (Sonja Hilberger, Marlen Ulonska) erweitert und lehnt sich damit an Brechts überarbeitete Fassung von 1930 an, die dem Flieger drei Monteure beigesellt. Rollenwechsel zeigen allerdings, dass es nicht um ein Individuum, sondern um ein allgemeines Schicksal oder einen Typus geht. Der schwer verletzte Abgestürzte jedenfalls verlangt nach einem Glas Wasser, einem Kissen unter dem Kopf und überhaupt nach Hilfe. Dies wird ihm alles verweigert. Das vorhandene Wasser wird ausgeschüttet, das Kissen zerrissen, und statt Hilfe gibt es ein Verhör – mit der Begründung: „Uns hat er auch nicht geholfen“.

So wie von Hindemith vorgeschrieben, werden dieser und andere abweisenden Sätze zuerst vom Vorsänger vorgetragen, dann mit dem Publikum einstudiert und schließlich von allen als melismatische, quasi-liturgische Formel vorgetragen. Der Chor vertieft in polyphon-neobarockem Satz durchweg den Ernst dieser Idee. Beteiligt sind zudem zwei Orchester: Ein auf einem seitlichen Podium platziertes, eher lyrisch gestimmtes Nahorchester in prinzipiell beliebiger Besetzung, hier bestehend aus Streichern, Holzbläsern und Hörnern, und ein auf der Empore postiertes Fernorchester aus Blechbläsern, das in seiner feierlichen Ausstrahlung anmutet wie ein musikalisch gut geführter evangelischer Posaunenchor. Was hier gespielt wird, ist offensichtlich ein Anti-Oratorium, das zumindest vordergründig der christlichen Botschaft der Nächstenliebe Hohn spricht.

Dass der Bibelkenner Brecht Kapitel 10 des Lukas-Evangeliums genau gelesen hat, ist deutlich zu spüren. Dort nämlich antwortet Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf die Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ mit einer Perspektivumkehrung, in der der Fragesteller zum Opfer wird, das selbst die Hilfe eines Nächsten benötigt und diese unvermutet und unverdient erhält. Brechts Phrase „Er hat uns auch nicht geholfen!“ aber gibt dem abgestürzten Flieger keine Zukunft und keine Chance und propagiert die unterlassene Hilfeleistung – was nicht nur der christlichen Nächstenliebe, sondern auch dem soldatischen Ehrenkodex widerspricht, den das Publikum von 1929 im Hinterkopf hatte. Wenn dann Brecht und Hindemith in der „ersten Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft“ verschiedenen Manifestationen des Fortschritts mit der Parole begegnen „Das Brot wurde dadurch nicht billiger“, kritisieren sie nicht nur blinden Fortschrittsglauben, sondern statuieren an dem Sterbenden gleich ein brutales Exempel des Kollektivhaftung – symbolisch natürlich.

Dass das als Provokation gemeint ist, liegt in der Luft. Es mischt sich aber in schwer unterscheidbarer Weise mit einem zweiten, ernster zu nehmenden Gedankengang. Da geht es darum, dass der Sterbende sich in sein Sterben hineinfindet, indem er sich von seiner Größe, seinen Leistungen, seiner Selbstsucht und seiner Individualität freimacht und sich „auf die kleinste Größe“ reduziert. (Wozu man ihm allerdings weder Wasser noch Kissen oder Zuspruch verweigern müsste.) Johanna Schall zeichnet diese Entwicklung nach, wenn der Flieger anfangs auf einem Stuhl steht und schließlich am Boden kauert, und Benedikt Bader tut es geschickt mit der Stimme, wenn er im Dialog mit Chor und Publikum erst glanzvolle tenorale Aura verbreitet und am Ende in schlichter gebrauchsmusikalischer Diktion landet. Da findet man dann auch den gemeinsamen ideellen Nenner der beiden Autoren: Die Abkehr vom Heroismus des 19. Jahrhunderts, vom Kult der großen Männer – sei es in der Fliegerei oder in der Musik.

Johanna Schall tut auf der einen Seite viel, um die geistige Auseinandersetzung zu ermöglichen. Sie lässt die Darsteller auf dem Weg zur Bühne die Spielanweisungen lesen. Es ist witzig, wenn nach dem Satz „Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuhörer nötig.“ die Protagonisten irritiert in den voll besetzten Saal blicken. Sie lässt auch die gesungenen Texte allesamt sprechen – als gelte es, die Suggestivwirkung der Musik zu brechen und den Inhalt als solchen wahrzunehmen, oder umgekehrt: über den Inhalt hinaus die Suggestivkraft der Musik wahrzunehmen. Andererseits tut sie wenig, um Position zu beziehen oder zu ermöglichen. Während die Anweisungen ausdrücklich dazu einladen, „andere Musikstücke, Szenen, Tänze oder Vorlesungen einzufügen“ – und tatsächlich war 1929 in Baden-Baden als Film ein Totentanz der Tänzerin Valeska Gert zu sehen – tut sie gar nichts, um einen erhellenden Kontext herzustellen.

Nicht einmal zu einem Publikumsgespräch wird eingeladen. Erst wird das Publikum provoziert (wörtlich: „herausgerufen“), und dann hat es nichts zu sagen. So geht man denn irritiert wieder seines Weges – freilich nicht ohne großen Respekt vor der Leistung des Dirigenten Geoffrey Abbott. Der hat die Solisten, das von Andrea Huber einstudierte Junge Vokalensemble Schwaben und die Musiker des Leopold-Mozarts zu einem bei aller musikalischen und inhaltlichen Polyphonie beeindruckend sauber und homogen agierenden Ensemble geformt.

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