Im Staub, den die kulturpolitische Posse um den geschassten Rostocker Intendanten Latchinian aufgewirbelt hat, ist die Rostocker Oper nahezu unsichtbar geworden. Nur drei Musiktheater-Produktionen gab es in dieser Saison: ein Offenbach-Verschnitt, den wackeren „Zar und Zimmermann“ und das Musical „Ein Käfig voller Narren“. Das Solistenensemble der Oper ist auf acht Personen herunter gespart worden.
Jetzt versuchte sie, sich wieder deutlich sichtbar zu machen, im Rahmen der so genannten Sommerbespielung. Das ist ein wiederaufgenommenes Projekt, in einer alten, immer noch ruinösen Werfthalle, zwar mit guter Bestuhlung und Akustik, aber mit fehlender Infrastruktur für Bühnenaufführungen, in der touristisch attraktiven Sommerzeit theatralische Events anzubieten – so eine Art überdachtes Open Air. Dazu soll auch Oper gehören und so waren Fantasie und Einfallsreichtum gefragt, denn ein Versuch, vor acht Jahren unter diesen Bedingungen hier „Carmen“ aufzuführen, war künstlerisch grandios gescheitert.
So hatte man sich den Regisseur Rainer Holzapfel geholt, der 2008 mit einer witzigen und anrührenden „Bohème“ am Experimentallabor der Neuköllner Oper Berlin reüssiert hatte. Für die Eröffnung der Rostocker Sommerbespielung hat er eigens die Kriminaloper „La Signora Doria“ zusammengebastelt, die hier auch gleich als Uraufführung firmierte, ein Versuch, die große Oper ohne ihre Anstrengungen durch ungewöhnliche Formatierungen ans breite Publikum zu bringen.
Ungeniert und effektsicher zielt er dabei auf drei „Grundbedürfnisse“ unserer Kultur: unsere Gier auf „große Emotionen“, unser kriminalistisches Interesse an der Aufklärung des Bösen und unseren Voyeurismus, mit dem Blick durchs Schlafzimmer-Schlüsselloch der „Großen“ ihre Gewöhnlichkeit zu erhaschen.
Für die „großen Emotionen“ setzt er auf Musik aus Puccinis Dreigestirn „Bohème“, „Butterfly“ und „Tosca“, für unseren Voyeurismus auf ein Skandälchen aus Puccinis Biografie, in dem dieser 1909 verwickelt war, als seine Ehefrau Elvira ihr Dienstmädchen Doria in den Selbstmord trieb, weil sie sie der Kopulation mit Puccini verdächtigte. Aus diesem Skandal macht Holzapfel einen Kriminalfall, in dem aus Fernseh-Krimis sattsam bekannten Klischee: nicht mehr ganz junge erfahrene Kommissarin und junger Assistent im unerbittlichen Dienst der Wahrheit, dargestellt von den Schauspielern Paul Lücke und der bekannten Renate Krößner, die die Muster aus Tatort und Miss Marple nicht ganz so souverän wie die Originale herunterschnurren. Kommissarin Hansen beamt sich kurzerhand in die Vergangenheit, um im Hause Puccini als Undercover-Ermittlerin nach der Wahrheit zu forschen. Aber welcher? Der Frage: Haben sie, Puccini und Doria, oder haben sie nicht? War die eifersüchtige Ehefrau Elvira mit ihren Beschuldigungen im Recht oder nicht? Aber da diese Fragen heute längst entschieden ist, Doria war auch nach ihrem Suizid noch jungfräulich, hätte es eher einen Psychiater gebraucht – und die Kommissarin scheitert denn auch; mit dem resignierten Satz „Puccini ist gefährlich“ macht sie sich zum Schluss an die Aufklärung ihres neuen Falles: einer Leiche aus der Warnow.
So gibt es drei Spielebenen, die Gegenwart der Ermittler, die Vergangenheit im Hause Puccini als die üblichen Szenen einer Ehe zwischen einem selbstbezogenen Künstler und einer vernachlässigten Ehefrau und die Fiktionen der großen Oper, die Szenen und Arien aus Puccinis Meisterwerken als Projektionen der Psychologie eines bürgerlichen Künstlerhaushalts. So wird Puccini, gesungen vom hauseigenen Tenor James J. Kee mit nicht ganz hinreißender Bel-Canto-Geschmeidigkeit, gespiegelt in Rodolfo aus „Bohème“ (dessen große Arie hier noch der junge Tenor Chulhyun Kim sang), in Pinkerton aus „Butterfly“ und Cavaradossi aus „Tosca“. Die arme Doria gespiegelt in Musetta und in der Sterbeszene von Cho-Cho-San, mit der Rostocker Primadonna Jamila Raimbekova einer der authentischen Momente des ganzen Abends. Ehefrau Elvira gespiegelt in der Diva Tosca, die dann auch noch ihrem längst verstorbenen ersten Ehemann als Scarpia begegnet, stark geboten, mit einer Prise derber Erotik, von der russischen Sopranistin Anna-Maria Kalesidis und dem schwedischen Bariton Kosma Ranuer. Und zum Schluss wird es ganz surreal, denn Puccini will nun die als Dienstmädchen verkleidete Kommissarin verführen, was diese dazu verführt, ihn zu erschießen, vermutlich: denn es knallt, Puccini fällt um und ist tot – und die Kommissarin kann nur versuchen, über einen rostigen Pfeiler in ihre Gegenwart zurück zu fliehen.
Verschlingungen und Verknotungen
Vermutlich ist es ja keine schlechte Theater-Idee, diese drei Fäden zu einem solchen Knäuel zu verstricken. Aber in der Verwirbelung von Wirklichkeit, Imagination und Illusion wickelt es sich nicht immer glatt ab, dramaturgische Verschlingungen und Verknotungen erzeugen viele Unklarheiten – worüber das Publikum großzügig hinwegsah.
Das eigentliche Problem, das den Abend beschwert, ist offenbar, dass Holzapfel auch für ein solches sommerliches Event nicht auf geistigen Anspruch verzichten will, und sein Geschichten-Knäuel ernst nimmt, statt es – wofür es zweifellos besser geeignet wäre – für eine amüsante geistreiche Parodie auf die große Oper, die Krimi-Klischees und unsere Vorstellungen vom bürgerlichen Leben eines großen Künstlers zu nutzen. Dies hätte zweifellos mehr Amüsement verschafft, so bleibt komödiantischer Humor weitgehend abwesend oder harmlos. Stattdessen muss man etwa eine hölzerne Kunst-Diskussion der beiden Kommissare erleben, in denen diese den „furchtbaren“ Verdacht äußern, Puccini habe die Affäre mit der Doria nur fingiert, um sich Inspiration für seine „todtraurige Musik“ zu verschaffen (Obwohl, dies nebenbei gesagt, alle drei Opern vor dem Doria-Skandel entstanden sind – aber Kommissare müssen nicht alles wissen).
So zeigt sich auf der Bühne dieser Inszenierung zuerst – die Norddeutsche Philharmonie Rostock, in voller Lebensgröße sichtbar, unter dem Ersten Kapellmeister Manfred Hermann Lehner gut musizierend, mit besonders eindrucksvollen dramatischen Effekten. Davor vollzieht sich auf einem schmalen Gebäu von Stegen und Podien die Szenerie, beengt, aber nicht ungeschickt arrangiert, in drei, sich kaum berührenden Stilebenen: die Opernszenen ungebrochen im „emotionsgeladenen“ Stil der großen Oper, die Szenen im Hause Puccini im Stil trockenen Konversationstheaters, die Kommissar-Szenen als bloßes Tatort-Remake.
Wie sagte doch die Kommissarin zum Schluss? Puccini ist gefährlich, auch für Sommerevents.