Jonas Kaufmann eröffnete am 27. Dezember seine erste Intendanz-Jahresrunde im ausverkauften Festspielhaus als Nachfolger von Bernd Loebe, der sich im Sommer 2024 mit einem fulminanten „Mazeppa“ von den Tiroler Festspielen Erl verabschiedete und in diesem auch Politisches zum Russland-Ukraine-Konflikt artikulieren ließ. Der aus München stammende einbringende Tenor-Star setzt jetzt primär auf die traumhafte Landschaft und zugkräftige Lockangebote: Voilà „La Bohème“.

La Bohème Tiroler Festspiele Erl. Ensemble. Foto: © Xiomara Bender
Puccini-Routine: Jonas Kaufmanns Intendanz-Start bei den Tiroler Festspielen Erl
Ein „Ausverkauft“ wie zu den beiden Zyklen der „Ring“-Inszenierung von Brigitte Fassbaender dürfte in Erl allerdings auch in Zukunft nur selten machbar sein. Dazu ist die Dichte an Weltstar-Exklusivität in München wie Salzburg, an Mehrspartentheatern auf Exzellenzniveau von Regensburg bis Linz, die Festivallandschaft vom Blauen Land bis Salzkammergut und Innsbruck einfach zu groß und breit. Erler Erfolgsbilanzen machten Kaufmanns Vorgänger durch Individualität – der Festspielgründer Gustav Kuhn mit die musikalische Qualität zuerst überragenden Visionen, der intelligent-intellektuelle Pragmatiker Bernd Loebe mit legendären Spezialitäten des Randrepertoires. Bei Kaufmanns Programmplanung bestechen die merkantile Ausrichtung und damit das künstlerisch Austauschbare vorerst mehr als das Bemühen um eine dem einmaligen Festspielort angemessene Originalität. Viele Gesichter von treuen Erl-Connaisseurs der letzten Jahre fehlten im Foyer. Nach der Pause blieben einige Plätze leer.
Das Orchester der Tiroler Festspiele Erl unter seinem neuen Chefdirigenten Asher Fisch punktet nicht ganz wie zwei Wochen früher das Sinfonieorchester Münster unter Golo Berg in einer qualitativ aufschlussreichen Stadttheater-Produktion. Trotz reichlicher Erler Erfahrung mit Belcanto und spätem 19. Jahrhundert klangen die „Szenen aus dem Pariser Künstlerleben“ erstaunlich flach und kantig. Manchmal verhuschte Puccinis mit Strauss-Finesse gesetztes Parlando-Palaver. Mal musste die gute Besetzung etwas forcieren und blieb vom Dirigent ungeschützt, deshalb leicht unausgewogen.
Das glichen vor allem die Kostüme von Clara Peluffo Valentini reichlich aus. Die armen Künstler der Pariser Boulevards und den Chor steckte sie in Westen und Kleider von explosiver Buntheit. Stellenweise wetteiferten diese Kostüme mit Mar Flores Flos Videos aus fluiden Formen wie aus einem LSD-Rausch. Buntes wurde zum Teil eines Raums der Andeutungen und von Mimìs ersterbend karger Seelenlandschaft. Das glättet die polaren Gegensätze von Luigi Illicas und Giuseppe Giacosas aus Murgers Episodenroman von 1851, welche auch der katalanischen Regisseurin Bárbara Lluch schnuppe sind.
So fließen in den Mansarden-Bildern des 1896 in Turin uraufgeführte Hybrid-Melodrams die Spiele des Freundesquartetts und das schicksalhafte Spiel ineinander wie die Farben der Kostüme. Im Café Momus verschwimmen die szenischen Konturen zwischen Einzelfiguren und Massen. Selbst wenn „Carrousel“ drübersteht: Das „Merry Christmas“ am Pariser Montmatre gerät zum Karneval ums Krankheitsdrama. Eine größere Mädchengruppe aus dem Kinderchor der Schule für Chorkunst München wird zu kleineren Doubles der letal tuberkulösen Mimì mit blauem, eine Spur zu elegantem Kleid und rotem Häubchen. Im Bühnenbild von Alfons Flores stirbt das Bohème-Groupie Mimì mit seiner Gier nach vollem Leben vor unvermeidlich nahem Tod an einer simplen Tür im eisgrauem Raum.
Immer wieder steht Mimìs Krankenbett herum. Sara Cortolezzis singt die Sterbeszene mit berückendem Schimmer. Sie ist beim Kennenlernen mit Rodolfo recht initiativ, gibt im Momus-Bild eine herzlich intensive Granate von Lebensgier. Die schönste Überraschung in Kaufmanns „Bohème“-Cast war die an Stimmwärme und lyrischer Intensität mit Mimì definitiv gleichwertige Victoria Randem als Musetta. Lluch führt sie als Skandalnudel ein und versieht Figur erst spät mit tieferen Emotionen. Long Long hat eine schöne Stimme, wird aber von Fisch an manchen Stellen ins unsachgemäße wie unnötige Forcieren getrieben. Zuverlässig und charakterneutral agieren Tommaso Barea als Marcello , Liam James Karai als Musiker Schaunard und Jasurbek Khaydarov als Colline.
Insgesamt zeigen sich bei Kaufmanns Start die Tiroler Festspiele unter Optimierungsbrise. Angesichts dieser „Bohème“-Premiere erweist sich die Beschwörung von „aufregendem Musiktheater“ als Werbeslogan, dessen Punkte B („herrliche Landschaft“) und C („moderne Architektur“) definitiv wahrhaftig sind. Es gibt noch Karten für fast alle Winter-Veranstaltungen.
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