Mit der Uraufführung der Oper „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas auf ein Libretto von Händl Klaus wurden die Schwetzinger SWR Festspiele eröffnet. In der Koproduktion des SWR mit dem Theater Bonn betreten Schauspieler und Sänger die traumatischen Erinnerungsräume eines missbrauchten Mädchens.
„Wie früher.“ In seligen Terzen beschwören Mutter und Tochter die Integrität einer verlorenen Kindheit, einer Unschuld und Reinheit, die längst verloren ist. Unheimlich tropfen die „Totenlaute“ ihrer Eltern aus dem Schlafzimmer auf die traumatisierte Tochter im Blümchenkleid herab, die nichts lieber möchte als das „Bluthaus“ zu verkaufen, in dem die inzestuöse Beziehung zu ihrem Vater begann und in dem beide Eltern in einem Racheakt der Mutter ihr blutiges Ende fanden.
Nichts in der bis zur Sterilität cleanen Umgebung (Bühne: Martin Kukulies) weist mehr auf die Blutschande hin – rumorten die Erinnerungen in Nadja, der Tochter, nicht allzu stark, wären die Stimmen der toten Eltern doch bloß nicht mehr so anwesend.
Frauenschicksale, Familienträgodien – nichts scheint typischer für einen Opernstoff als diese Ausgangssituation. Noch nie wurde eine solche Geschichte jedoch anhand eines Hausbesichtigungstermins erzählt. Neben dem alerten Makler Freund betritt nach und nach ein skurriles, „österreichisches“ Panoptikum an Kaufinteressenten das Bluthaus: die zickige Bedenkenträgerin, der Witwer mit den frechen drei Knaben, der Rentner mit Sparkonto, das Muttersöhnchen samt Mutter, schließlich auch noch das Migrantenpaar mit Sinn fürs Ökonomische. Mehrfach wäre das Haus schon verkauft, wären da nicht die Nachbarn, die das dunkle Geheimnis des Hauses nach und nach ans Licht bringen und Nadja damit der sozialen Ächtung anheimliefern. In einem Teufelskreis gefangen, gibt sie sich dem Makler hin und schlägt auch noch den letzten Rettungsring, der ihr zugeworfen wird, aus. Die Autoren gönnen ihrer Nadja keinen Ausweg, sie kann ihr Haus nicht verlassen.
Neu ist nicht nur die Situation, auch die Erzählweise, die der Librettist wählt, ist außergewöhnlich. Selten steuern die Figuren mehr als einzelne Worte zum dramatischen Geschehen bei: Hoquetusartig verbinden sich die Worte zu Sinnzusammenhängen. Eine Sprache, die die Auflösung der Figuren und ihre Rekonfiguration zugleich betreibt. Mit kürzesten Satzgliedern verleiht er seinen Figuren eine ambivalente Kontur und verschafft ihnen zugleich szenische Konsistenz.
Über weite Strecken begnügt sich Georg Friedrich Haas damit, diese in sich schon stark rhythmisierte Sprache durch rhythmische Akzente zu unterlegen, sie mit glissandierenden Linien zu umranden und verschafft damit der Theatersprache von Händl Klaus einen Rahmen, innerhalb dessen sie ihre Wirkung voll entfalten kann. Er entbindet sich damit jedoch keineswegs eines Kommentars, gelegentlich lässt er sich zu lautmalerischen Gesten im Graben hinreißen, schreckt auch vor dem Klang-Arsenal des Horror-Genres nicht zurück. Ein Clou liegt jedoch bereits darin, dass Haas neben Nadja, ihren Eltern und dem Makler sämtliche Partien mit Schauspielern besetzt hat. Damit schafft er sich einen weiten Ausdrucksrahmen, der von unwirklich schönen Gesangspartien, grotesken Parodien und urlautlichem Gestöhne bis zum Sprechgesang oder Sprechchor reicht.
Die Besetzung des Bluthauses löst die gewöhnlichen „Spartenzugehörigkeiten“ auf und lässt die Oper so zu einer spannenden Herausforderung für ein „Mehrspartenhaus“ wie das Bonner Theater werden. Dessen Generalintendant Klaus Weise inszeniert die Geschichte, offenbar ohne sich größere Gedanken über den Status der Stimmen der Eltern zu machen: Sind sie Geister, Wahnvorstellungen, real anwesend oder nur imaginiert? Die Haltung dazu wird nicht recht deutlich, wenn der Vater auf dem Höhepunkt, während der Makler sie von hinten nimmt, die Hand hält oder er sie – während er Quittenschnitzen einkocht – unsittlich berührt.
Kalte Schauer jagt’s einem dennoch über den Rücken, zumal Georg Friedrich Haas sich zu kontrafaktischen Interventionen entschlossen hat und seine Musik immer dann in ihrer vollen Obertonakkordschönheit aufblühen lässt, wenn es auf der Bühne grausam wird. Im letzten Drittel erlebt man dann gar einen zuvor nicht wahrgenommen Georg Friedrich Haas: Die Holzbläser senden dudelnde Melodien, repetitiv schaukelt sich der Begleitungsapparat dazu ein, zwischenzeitlich meint man fast, einen spektralistischen Philip Glass vor sich zu haben.
Sarah Wegener in der Titelpartie rührt mit ihrer sängerisch glänzenden Darstellung der Nadja, Daniel Gloger kostet die grotesken Seiten seiner Rolle voll aus. Otto Katzameier und Ruth Weber bewältigen ihre Partien der in Begierde und Machtlosigkeit gefangenen Eltern überzeugend. Das Radio-Sinfonieorchester des SWR unter Leitung von Stefan Blunier ist ein klangschöner, leider rhythmisch nicht immer ganz zuverlässiger Begleiter an einem Opernabend, der – auch mit seinen offenen Fragen – einer Festspieleröffnung würdig ist und dem zeitgenössischen Musiktheater ein paar anregende Wege aufzeigt.