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Foto: Copyright Vlaamse Opera / Annemie Augustijns
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Rasanter russischer Realismus in Flandern – Calixto Bieito inszeniert Schostakowitschs „Lady Macbeth“ in Antwerpen

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Die junge Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa lebt im 19. Jahrhundert eingeklemmt zwischen einem unattraktiven Ehemann und einem brutal über die Familie und Personal herrschenden Schwiegervater auf dem platten russischen Land. Sie wird vernachlässigt und gedemütigt, wird zur Ehebrecherin und Mörderin. Dmitri Schostakowitsch promovierte zu Beginn der 1930er Jahre die bürgerlich-realistische Erzählung „Ledi Makbet Mcenskogo uezda“ von Nikolaj Leskow (1831–1895) zu einer großen vieraktigen Oper.

Die erhitzte 1934 bei der Uraufführung und 83 Folgevorstellungen im Leningrader Maly-Theater sowie fast zeitgleich in Moskau mit 94 Vorstellungen die Gemüter (kurz darauf auch in Cleveland, New York und Philadelphia). Die Operngängerinnen spürten wohl von Anfang an durchaus die Empathie, die der Komponist seiner verworfenen Heldin entgegenbrachte – er nobilierte die Figur gegenüber der literarischen Vorlage und ließ die Musik so manche Ambivalenz der Handlung auskosten. Man hatte vor achtzig Jahren zumindest das Gefühl, ein Werk ganz „auf der Höhe der Zeit“ zu erleben. Darauf zielte nun auch die neue Produktion an de Vlaamse Opera in Anvers/Antwerpen (sie geht später auch nach Gent): Calixto Bieito, bekannt und berüchtigt für seinen klaren und harten Umgang mit Sexualität und Brutalität in historischen Opern, inszenierte in der Ausstattung von Rebecca Ringst und Ingo Krügler.

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Dmitri Jurowski dirigiert die originale Partitur (es wurde im Lauf der Jahrzehnte an diesem Werk herumgedoktert, doch gemeinsam ist den verschiedenen Versionen die Basis eines tonal strukturierten und übersichtlich angelegten Tonsatzes). Die musikalische Interpretation verrät sachkundigen Zugriff und spricht eine der Inszenierung korrespondierende Sprache: Da verband sich kühle Klarheit und Gespür für Dosierungen der Reizdissonanzen mit dramatischem Verve (insbesondere der brillant, präzise-heftig, passgenau agierenden Bläser) und edler Streicher-Melancholie. Das Aggressive, Ungebärdige, Triebhafte, „Schäbige“ gelangt ebenso zu seinem Recht wie der Ton der Klage über das Unzumutbare, Lustfeindliche und überhaupt „Unfreiheit“.

Als er Leskows Novelle mit seiner dampfenden, zündenden und zart-elegischen Musik versah, hatte Schostakowitsch, um es mit Heinrich Heine zu sagen, „sein Publikum und seine Zeit schlecht gewählt“. In der zunehmend als Diktatur Stalins formierten Sowjetunion standen die Frauenrechte und Fragen der weiblichen Selbstverwirklichung nicht mehr auf der Tagesordnung. Die grotesk-höhnische Darstellung der Polizei erschien gänzlich deplatziert (auch wenn es sich um die zaristische Ordnungsmacht handelte). Der Nr. 1 kam der sachlich geschilderte, aber von musikalischer Faszination und partiellem Verständnis (oder sogar Wohlwollen) begleitete Lebenswandel der ambivalenten Heldin wohl alles andere als gelegen. Jedenfalls tadelten der „große Gärtner“ und seine Kamarilla dieses Werk 1936 wegen seiner „Vulgarismen“ sowie insbesondere wegen der „Kakophonie“, dem angeblichen „Chaotismus“ und der mangelnden „Volkstümlichkeit“ der Komposition (als wären Sex und eine passend stimulierte Musik nicht volkstümlich!). Man nutzte die kontroverse öffentliche Debatte zur generellen Ausrichtung des Musikschaffens der UdSSR (die „Lady M.“ wurde verboten und erst unter Chruschtschow 1963 in einer entschärften Version als „Katerina Ismailowa“ wieder zugelassen).

Keine Frage: Die Lady Macbeth des Mszensker Landkreises gerät in Begleitung von deftig auftrumpfender Theatermusik auf einen vom Gesetzgeber und den „guten Sitten“ nicht vorgesehenen Ausweg zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse. Sie wird wegen der Tötung des Ehemanns im Zuge einer von diesem – angesichts ihrer Untreue begonnenen tätlichen Auseinandersetzung – mit Verbannung bestraft und findet einen heftigen frühen Tod durch einen erweiterten Suizid. Das Werk, das seinen Komponisten weltberühmt machte, ist eine Oper die zur Sache kommt, kein Blatt vor den Mund und die Augen nimmt. Da wird nicht nur nach der Väter Sitte geprügelt, gepeitscht, vergewaltigt und überhaupt gequält, sondern schafft sich die Lust auf eruptive Weise Bahn – coram publico und nicht nur einmal.

Die aus Litauen stammende Sopranistin Ausrine Stundyte, die nicht zuletzt in Köln als Agathe im Freischütz und als Madame Butterfly auf sich Aufmerksam machte, ist eine attraktive junge Frau. Unter dem interessant-schönen Gesicht ein schlanker Hals und ein Körper, der selbst unter den kritischen Argusaugen von Modeschneidern oder Weightwatchern Idealabmessungen erfüllen dürfte. Wie sie sich in einer schicken modernen Wohnung nach dem Glück sehnt, ist sehenswert – im kurzen blauen Kleid vor weißen Wänden und Möbeln horcht sie in ihren Körper hinein und offenbart die geschundene Seele. Und dann erweist sich Stundytes nächtliche Unruhe als hörenswert (nicht immer im „rein gesanglichen“ Sinn ganz genau in der Spur, aber als sängerdarstellerische Leistung rundweg überzeugend). Nach der stimmig vorgeführten anfänglichen Ratlosigkeit also eine energisch-selbstbewusste Titelheldin, die Nervositäten der Täterin ebenso wenig verbirgt wie später die Empfindlichkeiten gegenüber den neuerlichen Demütigungen durch den Liebhaber und Mittäter Sergej.

Wie sich diese Katerina Ismailowa vorm Kühlschrank selbst befriedigt und dann mit Eiswürfeln abkühlt, das ist nicht nur glaubwürdig, sondern offensichtlich aus dem wirklichen Fernsehleben gegriffen. Bietos Inszenierung hat die Herausforderung des Films angenommen und mit den Mitteln der Opernbühne glasklar und knallhart zurückgeschlagen. Dass die Triebtäterin variantenreich die Liebe mit dem neuen Handlungsgehilfen pflegt, ist vom Stück vorgegeben – doch die Ausführung en gros und en detail trägt die besondere Handschrift des katalanischen Regisseurs: Von der Art, wie Sergej ihr mit dem routinierten Handgriff aus dem Slip hilft über die Choreographie der minutiös auskomponierten heftig rammelnden Primärverbindung bis zur Phase des abebbenden männlichen Interesses, das sich schon wieder neuen lohnenden Zielen zuwendet – alles erscheint perfekt. Die Häufigkeit und Heftigkeit der verhaltenen Erfolgsmeldungen beim Cunnilingus gelingt mit besonderer Delikatesse. Die gewisse Unersättlichkeit der Titelheldin wird sehr präzise gezeigt, die Gier nicht beschönigt. So triumphiert Stundyte mit dem Egoismus der Selbstverwirklichung – aber auch in den Irritations-Momenten der peinlichen Kleinbürgerhochzeit und mit den Melodiebögen des Leidens.

Dass die Varianten für alle Aggregatzuständen der Lust und des Frustes so gezeigt werden können, wie sie nun am Frankrijklei gezeigt werden, liegt wesentlich auch an der Souveränität, Mobilität und Stimmgewalt des baumlangen schlanken tschechischen Tenors Ladislav Elgr. Dieser Vorarbeiter eines einst als besonders männlich geltenden Sexualverhaltens, ein „Bursche“ mit ausgiebig gezeigtem Waschbrettbauch, ist ein Glücksfall für Katerina und die Flämische Oper. Der große alte Bassist John Tomlinson verkörpert auf entwaffnende Weise die Banalität des Bösen im bürgerlichen Alltag. Es soll hier nicht weiters berichtet werden, was Boris Ismailow zum Beispiel mit einer der Hausangestellten anstellt, die er wie eine Hündin am Halsband in sein Schlafzimmer schleppt und der er zum TV-Nachtprogramm sporadisch sadistische Aufmerksamkeit widmet (die Anspielung auf die Fotos aus dem Gefängnis Abu Gharib spricht eine klare Bildsprache). Dass das Scheusal Boris mit Rattengift im Pilztopf aus der Welt geschafft wird, wirkt in voller Höhe verdient. Und wie die Polizeieinheit, sekundiert von der bestens sichtbaren Polizeiblasmusikkapelle (in der Höhe aufmarschierend zwischen Insignien der Agrarindustrie), am kurzen Glanz des bürgerlichen Glücks von Sergej und Katerina teilnimmt – das ergibt strahlend-surrealistische Einlagen der Extraklasse. Überhaupt wirkt Jurowskis Dirigat, das ein oft wohl absichtsvoll spitz und scharf akzentuierendes Orchester zeitigt, dem Gesamtprojekt höchst angemessen: Auch die Musik zeigt keinen Fingerbreit Fettansatz.

Nachdem sich Katerina schon zum Zwischenspiel im zweiten Akt die Wohnsofalandschaft in ein Liebeslager umgerüstet hatte, erweist sich auch der Umbau des Anwesens der Ismailows zu einer menschenunwürdigen Unterkunft, in die die Verbannten auf ihrem Fußmarsch Richtung Sibirien gezwängt werden, als theatral glückende Maßnahme: Choristen und Statisten arbeiten zügig, aber doch eben ein paar Minuten lang an der Demontage. Sie schaffen so eine Zäsur vor dem vierten Akt. Und so gelingt ein Spitzenprodukt, das vielleicht nicht nach jedermanns oder jederfrau Geschmack ist – aber rekordverdächtig und nachhaltig einprägsam (und sehr gut zu verstehen ist, was Putins großen Vorgänger an diesem Werk zutiefst beunruhigt haben dürfte). Calixto Bieito hat, was Aufgabe der Regisseure ist, gezeigt, was in dem Stück steckt. Bis zum bitteren Ende im sibirischen Sumpf, der die Körper färbt und verschlingt.

 

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