Die Neue Musik entdeckt das Tempo wieder. Die Welt der stehenden Klänge scheint genug durchforscht. Die Kunst drängt auf die Rennpiste. In Frankfurt am Main veranstaltete die Internationale Ensemble Modern Akademie ihr erstes Symposium zum Thema „Tempo“. Experten aus Kunst und Wissenschaft untersuchten das Phänomen der Hochgeschwindigkeit in ihren jeweiligen Disziplinen. In Köln konzentrierte sich ein Musik-der-Zeit-Wochenende beim WDR auf das „Tempo“ in der modernen Musik.
Dabei wurde doch bei den Klanguntersuchungen der Vergangenheit zugleich und besonders die Entdeckung der Langsamkeit geradezu hymnisch gefeiert – gleichsam als Antibiotikum gegen den fiebrigen Geschwindigkeitswahn unserer Tage. Doch auf Dauer lässt sich offensichtlich unser Verlangen nach Beschleunigung und Höchsttempo nicht unterdrücken. Wir möchten wohl unsere Reisegewohnheiten auch in der Musik nicht missen: so rückt das Phänomen „Tempo“ in der Musik wieder stärker in den Vordergrund des Interesses.
Das Thema „Tempo in der Musik“ erschien der zuständigen Redaktion im Westdeutschen Rundfunk Köln so aktuell, dass sie ihm jetzt ein ganzes Wochenende ihrer traditionsreichen Reihe „Musik der Zeit“ widmete: „Tempo Tempo“, so der Titel, signalisierte durch die atemlose Verdoppelung bereits das Verlangen nach Geschwindigkeit. Nun ist die Entdeckung der musikalischen Schnelligkeit keine unbedingt aktuelle Erfindung. Schon die Futuristen priesen 1909 in einem Manifest die „Schönheit der Geschwindigkeit“, verlangten nach einer Musik mit „Geräuschen des Explosionsmotors“. Die Faszination, die von einer sozusagen explosiven Technisierung des Lebens und der Welt ausstrahlte, sollte auch in der Kunst ihre ästhetische Entsprechung finden. In diesem Zusammenhang ist auch der Siegeszug des Player Pianos zu sehen, des mechanischen Klaviers, von dem in den frühen 20er-Jahren fast eine halbe Million Exemplare fabriziert wurden. Strawinsky, Hindemith und Malipiero haben für das Lochstreifeninstrument Stücke geschrieben. Es spielte auch beim häuslichen Musizieren eine wichtige Rolle, etwa als Begleitung zum Gesang.
Es war der amerikanische Komponist Conlon Nancarrow (1912 bis 1997), der in seinem mexikanischen Exil (er war wegen seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg aus den Staaten ausgewiesen worden) die technischen und damit zugleich musikästhetischen Möglichkeiten für sein Komponieren entdeckte. Das mechanische Klavier bewältigte mühelos die in die Papierrollen gestanzten Notenlöcher, mit denen die Klaviertasten in Bewegung gesetzt wurden. Ein noch so virtuoser Spieler könnte die auf das Papier gebannten Tempi, Polyphonien, Tonmassierungen und komplizierten Kanons nicht realisieren. Wer diese Art der Musikherstellung als technizistisches Konstrukt bezeichnen möchte, verkennt die Besessenheit, das quasi Visionäre von Nancarrows Komponieren: Immer steht das schöpferische Subjekt hinter den technischen Abläufen. Das spürt man heute vielleicht stärker als in früheren Zeiten, und die Kölner Begegnung mit mehreren von Nancarrows „Studies for Player Piano“ intensivierte noch den Eindruck einer starken Emotionalität hinter dem Konstruktiven. Die Demonstration des Player-Piano-Experten Jürgen Hocker, bei der das mechanische Funktionieren zugleich auf einem Video-Schirm zu verfolgen war, verlieh dem Ganzen noch eine zusätzliche spannungsvolle Theatralik – siehe dazu unsere obige Abbildung. Nancarrow war dabei kein Doktrinär, er versetzte Player-Piano-Stücke auch wieder zurück ins traditionelle Instrumentarium (No. 34 für Streichtrio) oder ließ einen Geiger gegen das mechanische Klavier antreten wie in der „Toccata“ (von 1935): Irvine Arditti avcancierte zum violinistischen Hexenmeister. Dass sich von Nancarrow unverändert auch nach dem von der mechanischen Musik enthusiasmierten Ligeti jüngere Komponisten inspirieren lassen, demonstrierten vor allem Gérard Pesson in seiner Tempostudie „Rescousse“ und Paul Usher mit seinem String Quartet No. 2 sowie seinem Nancarrow-Concerto für Pianola und Kammerorchester, alles gewichtige Uraufführungen, die Nancarrows Komponierästhetik individuell und inspiriert weiterentwickeln, während Andreas Dohmens ebenfalls im Auftrag des WDR entstandene Komposition „tempo giusto“ für Orchester und Schlagquartett das Thema „Tempo“ in eigenständiger Weise eindrucksvoll auf den Punkt bringt: differenziert in der Strukturierung, griffig im musikalischen Ausdruck.
Für die einzelnen Aufführungen garantierten das WDR-Sinfonieorchester Köln unter Stefan Asbury, das fulminant agierende Arditti Quartet sowie das zweimal auftretende Ensemble Modern unter Kasper de Roo mit dem Pianola-Spieler Rex Lawson ein hochkarätiges, authentisches Interpretationsniveau. Mit den Werken von Nancarrow, Pesson, Usher sowie mit Hindemiths furios gespielter Kammermusik Nr. 1 bestritt das Ensemble Modern tags darauf auch sein Konzert in der Alten Oper Frankfurt.
Wie sehr das Thema „Tempo“ die Musik- und darüber hinaus die Kunstwelt beschäftigt, zeigte ein Symposion, das von der Ensemble-Modern-Akademie in Frankfurt veranstaltet wurde. Der Neurologe Hans Hacker, der Musikpsychologe Herbert Bruhn und der Komponist Markus Hechtle gingen zum Beispiel der Frage nach, wie viele rasch aufeinanderfolgende Informationen unser Gehirn verarbeiten kann und auf welche Weise Künstler unsere physiologischen Grenzen der optischen und akustischen Wahrnehmung in ihren Werken berücksichtigen. Das wurde nicht nur für die Musik untersucht, sondern auch für den Film und den Vortrag literarischer Texte. Das Thema „Tempo“ entwickelt also seine eigene Dynamik. Es bietet nicht nur ästhetische, sondern auch allgemeine Wahrnehmungskriterien.