Musik ist oft die beste Therapie. Sie vermag all das auszudrücken, was uns innerlich bewegt und wofür uns oft die Worte fehlen. E.T.A. Hoffmann nannte dieses Phänomen zu Beginn des 19. Jahrhunderts recht poetisch das Geisterreich der Töne – bezogen auf Beethoven, aber der Klangraum hat sich über die Jahre und Jahrzehnte weit darüber hinaus geöffnet. Und in der Tat ersetzt eine passende Musik jede noch so ausdifferenzierte Liste von Synonymen – nur eben ganz persönlich. Hörerfahrungen und gewachsene Konnotationen sind nunmal nicht übertragbar. Was aber, wenn die Musik selbst eine „Therapie“ nachzeichnet? So wie bei der Inszenierung von Karol Szymanowski Król Roger (1926), der beim aktuellen Prager Opernfestival als Produktion der Oper Košice zu sehen war.

Reihe 9 im historischen Ständetheater Prag. Foto: mku
Reihe 9 (#98) – Therapiestunde
Wenn Opern neu gedeutet werden, gibt es in der Regel zwei Möglichkeiten. Entweder man sucht Hilfe im Programmbuch, um etwas über die Hintergründe und Intentionen der Inszenierung zu erfahren (oft genug finden sich dort aber nur diffuse Andeutungen oder Worthülsen), oder man versucht, das Bühnengeschehen direkt mit den Augen zu erfassen und sich einen Reim darauf zu machen. Manchmal mit Erfolg, meist aber mit mehr Fragen als Antworten. Auch beim Król Roger in Prag war die Verwirrung zunächst groß – doch mit dem Auftritt des Edrisi wurde die Sache klar: Was im Libretto noch als arabischer Gelehrter bezeichnet wurde, kam hier als Psychotherapeut auf die Bühne; die Attribute waren neben Stift und Notizblock eindeutig und dem Kino der späten 60er und frühen 70er Jahre entlehnt: dunkelbraune Hose, hellbrauner Rollkragenpullover und eine markante Brille. Ein Stereotyp, der aber umso interessanter war, als er auch ohne filmisches Repertoire sofort entschlüsselt werden konnte. Mit den Worten „Der Traum ist wahr geworden“ löst sich schließlich in Akt 3 die Sitzung auf.
So dicht und gegenwärtig die Erzählung dadurch wurde, so bedrückend war in dieser Inszenierung für alle Beteiligten (auch für das Publikum) die Bühnensituation. Denn Szymanowski sieht ein groß besetztes Orchester vor, das in den Graben des Ständetheaters gar nicht hineinpasst. Es musste daher (wie schon in Košice) im hinteren Teil der Bühne platziert und akustisch durch bühnenbildnerische Plafons geleitet werden. Der groß besetzte Chor konnte sich an den Seiten dicht an dicht aufstellen, die eigentliche Handlung wurde auf die Proszeniumsbühne verlegt. Für die Balletteinlagen in den letzten beiden Akten war da kein Platz mehr. Auch wenn in dieser Situation das Bestmögliche getan wurde, wäre die größere Bühne des Prager Staatstheaters wohl ein passenderer Ort gewesen – allerdings hätte man dann in der fertigen Produktion Änderungen vornehmen müssen. So las sich der Abend wie ein fortwährender Kompromiss mit begrenzten Möglichkeiten. Auch wenn (im Gegensatz zu den hervorragenden Solisten) Chor und Orchester nur eine solide Leistung abrufen konnten, sorgte die Partitur aus der Zwischenkriegszeit mit ihrer sehr eigenwilligen, schwer einzuordnenden Tonsprache für Verblüffung. Eine Lanze für Szymanowski, aber noch mehr für das eineinhalbstündige Drama.

Applaus und volle Bühne. Foto mku
Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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