Nach der Premiere ekstatischer Jubel über ein sich als schlüssig wie vielschichtig erweisendes Regiekonzept und ein musikalisches Edelereignis. Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka überführen Friedrich Nietzsches „Über-Mensch“-Definition in eine fragwürdige Utopie bzw. Dystopie. Stabil und souverän bleibt dazu die fulminante Durchleuchtung von Wagners bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 uraufgeführtem „Ring“-Teilstück „Siegfried“ durch GMD Sébastien Rouland und das Saarländische Staatsorchester. Intendant Bodo Busse wird das von ihm angestoßene Projekt leider nicht bis zum Finale begleiten, er wechselt als Opernintendant zum Beginn der Spielzeit 2025/26 nach Hannover.
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Siegfried in Saarbrücken. Foto: Martin Kaufhold
Saarbrückens „Ring des Nibelungen“: „Siegfried“ als Sternstunde mit ethischer Brisanz
Tilmann Unger sprang relativ kurzfristig in der Titelpartie ein, nahm im Hightech-Ambiente Wagners ersten Untertitel „heroisches Lustspiel“ voll ernst und macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass er einer der besten Tenöre im schweren Fach ist. Auch das Ensemble trug bei zu einer Wagner-Sternstunde mit Tiefgang, Intellekt und sich daraus ergebenden Erkenntnisdimensionen.
Das Konzept in den WLH+LL Laboratories erörtert jeden Tag mehr Realität werdende Zukunftsszenarien und allgemeinmenschliche Erkenntnisse – wie jenes von der Zirkularität des Menschseins durch genetisches Stammmaterial von Siddarta Mukherjee und Gedanken zur Selbstoptimierung mit technischen, chemischen, physischen Mitteln. Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka denken in ihrer Gesamtleitung von Regie und Ausstattung auch das weiter, was Wagner verschwieg oder knapp abtat. Also bastelt sich Prof. Alberich im Keller des von wissenschaftlichen Konflikten und Intrigen nicht freien Laborbunkers seine eigene und vorsätzlich auf Spatzenhirn programmierte Security-Gang. Fragen nach der Werktreue in den die nahe Zukunft mitdenkenden Konzepten – das ist eine gewichtige ästhetische Erkenntnis – erübrigen sich ab sofort. Musikalische Affekte und Szene sind hier in voller Übereinstimmung. Denn in einer Welt zunehmender Gehirnwäsche am 'echten' Menschenmaterial und von Cyborgs, Clones, Androiden ist der Ursprung von Emotionen bzw. analogen Phänomen aus KI und Programmierungen definitiv gleichwertig.
Markus Jaursch singt den oft dämonisierten Part des Hier-Nicht-Drachen Fafner also mit gesunder Sättigung und fast leichtzüngig als humanoides Wrack einer früheren Weltordnung. Erda hängt zwar an Schläuchen, vibriert aber vor Emotionen und ist attraktiv wie eine Schönheitskönigin von früher (großartiger Mini-Auftritt von Melissa Zgouridi). Das Aneinander-Vorbeireden des sonst testosterongesteuerten Siegfried mit der durch intime Vorkenntnisse der Göttergeschichte geflashten Brünnhilde gerät wirklich zum Abgleich verschiedener Wissensspeicher. Aile Asszonyi ersingt sich als Brünnhilde 2.0 erst prachtvoll die Erinnerungssynapsen. Pech nur, dass sie nach „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ zusammenbricht, weil der Relaunch zu Brünnhilde 3.0 startet.
Das Manipulative von Wotans Plan, der sich in der nächsten Modell-Generation ‚Wanderer‘ optimiert, schafft eine Flut von szenisch-dramaturgischen Wahrheiten zu Wagners vielschichtig aufgeladenem Plot. Das führt zwangsläufig zu Charisma-Verlust für Simon Bailey, der einen konditionierten und an den Buchstaben klebenden Wanderer mit iPad und korrekter Wissenschaftlerattitüde gibt. Unerlässlich in diesem Konzept ist das in enger Synergie mit der Musik wirkende Design aus Computeranimationen, E-Protokollen und Programmiersprachen: Leonard Koch entwickelte eine kongeniale und perfekt realisierte Videopartitur. Mit Wagners Musikdrama-Progression harmoniert dieses Inszenierungssetting auf allen Ebenen. Das in „Siegfried“ kompositorisch verdichtete Fluidum der Zeitebenen aus Vorwissen, Aktion und Zukunftsstreben findet sich in überraschenden Bildern. Dieser „Ring“ über den wissenschaftlichen Abschied von Menschsein entwickelt eine emotionale Kraft wie die besten ‚analogen‘ Inszenierungen.
Alles, was Sébastien Rouland mit dem Saarländischen Staatsorchester – dem singenden Blech, den üppigen Holzbläsern, den samtigen Streichergruppen – anstellt, beflügelt die Szene, erhöht in Synergie zur szenischen Astronautennahrung den instrumentalen Wagner-Speed. Unvergesslich geraten Sequenzen, wenn Mime Siegfrieds Furcht herauskitzeln will, der Schlagabtausch von Wotan und Alberich (Werner Van Mechelen mit Frankenstein-hafter Persönlichkeit), das Waldweben.
Damit setzt das Staatstheater Saarbrücken für alle Häuser knapp unter der internationalen Spitzenkategorie einen vorbildhaften Luxusstandard in Sachen Wagner. Überraschungen auch in der Ensemblekonstellation. Hinter der Attitüde des sachlichen Wissenschaftlers modelliert Paul McNamara ein so gar nicht exaltiertes Wesen mit packender Psychodynamik zwischen Zuwendung und Ehrgeiz. McNamara und Tilmann Unger geben ein Traumduo für Mime und Siegfried. Unger nimmt die Vorgeschichte und das Erinnerungsprogramm des Cyborgs Siegfried mit stimmlicher Leichtigkeit und inhaltlichem Tiefgang. Die Stimme ist exzellent fokussiert und hat einen weichen Rand. Damit kommt Unger ohne Verausgabung über jedes Orchester-Fortissimo.
Intelligente Dramaturgie bis ins letzte Detail: Das Waldvögelein wird zur synthetischen Erinnerung Siegfried an seine „Mutter“ und an seinen „Vater“. Wenn die beglückend singende Bettina Maria Haupt mit ihrem Twin (Jakob Hippchen) durch den Schnee wandelt und der Cyborg Siegfried zum ersten Mal das Labor verlässt, liegt in der szenischen Atmosphäre ein feines Leuchten und Staunen wie in der Musik. Der Saarbrücker Science Thriller „Der Ring des Nibelungen“ wirkt auch deshalb so stark, weil er immer Momente von gläserner Poesie setzt.
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