Jochanaan hat keine Chance. Als fanatischer Wanderprediger an einem verrückten Königshaus, das kann nicht gutgehen. Dirigent Christoph von Dohnányi hingegen hat seine Chance abgegeben und nach öffentlichkeitswirksamen Differenzen („unüberbrückbar“) mit Regisseur Hans Neuenfels die musikalische Leitung der Neuproduktion von „Salome“ an der Deutschen Staatsoper Berlin Thomas Guggeis überlassen. Der allerdings, ab kommender Saison als Kapellmeister ans Staatstheater Stuttgart verpflichtet, hat alle Chancen bestens genutzt.
Darauf eingestimmt hat – für alle, die es nicht schon vorher wussten – Intendant Jürgen Flimm. Es sei wie manchmal im Fußball, erst hat man kein Glück, dann kommt auch noch Pech hinzu; jedenfalls haben zwei Dirigenten das Pult mit der Strauss-Partitur „im Brass“ verlassen. Für den 24jährigen Assistenten von GMD Daniel Barenboim erwies sich diese Konstellation als wahrer Glücksfall.
Mit vehementem Zugriff hat er das exzessive Musikdrama zum Blühen gebracht – zum Blühen, nicht zum Bersten! – und dem Orchester jenen Glanz zugestanden, der quasi im Handumdrehen ins Raue, Spröde, Schroffe kippen konnte. Damit ist der Musik von Richard Strauss genau die Hauptrolle zugekommen, die beide Hauptgedanken aus der einstens so skandalösen Stückvorlage von Oscar Wilde hörbar machte: Tod und Eros in gegenseitigem Aufbegehren, im Ringen um jeweilige Freiheit.
In geradezu bewährter Weise hat Hans Neuenfels mit seinem Ausstatter Reinhard von der Thannen dafür einen Raum geschaffen, der Handlungsort, Entstehungszeit und ein vages Utopia geradezu bündelt. Als gehe es um Peterchens Mondfahrt, ist der seinen Wahn prophezeiende Joachanaan in einem Ein-Mann-Raketchen gefangen und zu seinem besonderen Leidwesen in bodenlange Frauenkleider gesteckt. Dass Raketen nun mal phallische Formen haben, dürfte hinreichend Grundlage für diese Entscheidung gewesen sein.
„Salome“ ist jedoch keine Verwechselungskomödie, sondern ein Trauerspiel um menschliche Abgründe. Die ein vielleicht ehrlich liebender Narraboth nicht ertragen kann – und deswegen schon vor seinem gestenreich fragwürdigen Selbstmord mit einem blutroten Turban erscheint. Das den eigenen Dreck am Stecken beständig weglächelnde Herrscherpaar in all seiner machtgeilen Bigotterie agiert als gutgekleideter Ausdruck von Verkommenheit. Herodes lechzt geradezu nach seiner Stieftochter Salome, die sich schon bald ihrer femininen Attribute entledigt und umso attraktiver als verführerische Lulu im schwarzen Anzug besticht. Und damit dem künstlerischen Provokateur Oscar Wilde so nahekommt, dass es der knallroten Leuchtschrift „Wilde is coming“ gewiss nicht bedurft hätte.
„Du sollst sie nicht anschauen“ scheint da kein Tochterschutz, sondern schon nur mehr eine hohle Selbstbehauptung von Herodias, die sich im langen Glitzerkleid gewiss noch eine lange und heile Ära gewünscht hätte. Aber – und hier beweist Jochanaan in seinem Glaubenswahn doch einmal Realitätssinn – die Zeichen der Zeit stehen auf Untergang. Auf dem glatt gewienerten Boden mit seinem orientalischen Grundmuster wird Blut fließen, viel Blut: „Man töte dieses Weib!“
Dass just diese elegante Salome Ausrine Stundyte – die zum Schluss nicht nur einen Kopf küssen, sondern durch ein Feld von sechs mal sieben Jochanaan-Häuptern schreiten wird – für ihre Tiefen ein aggressives Buh-Konzert hinnehmen musste, wirkte schon geradezu unanständig angesichts ihrer glasklaren Höhenlage, ihrer teils samtigen Gestaltung und ihrer abgründig gestalteten Annäherung an den Tod.
Angehimmelt wurde sie von einem spielerisch und vor allem vokal geradezu sprühenden Herodes, dem Gerhard Siegel erst noblen Ton, dann zunehmende Exzentrik bis hin zum Wahnwitz verlieh – und dabei stets eine ungemein sicher geführte Gesangslinie verfocht. Marina Prudenskaya als Gattin Herodias stand ihm mit schier wachsender Beherrschung konträr gegenüber – und machte gerade damit dieses Herrscherpaar zu einem Gesamtereignis.
Dem hat sich ein Joachanaan natürlich zu beugen, doch ihn zieht es ja ohnehin zu einem anderen Stern (nicht nur wegen der Minirakete im Deo-Roller-Format). Thomas J. Mayer verlieh im würdevoll Tiefe, brausend Empörung und weihenahes Predigertum. Dass Nikolai Schukoff als Narraboth allzu früh aussteigen muss, ist geradezu von doppelter Tragik, seinem so viel Edles ausströmenden Organ hätte man gerne länger gelauscht.
Bedauerlich jedoch, dass in manchen Szenen die figurative Aktion des Personals eher blutleer geriet und Nazarener sowie Soldaten unfreiwillig an Neuenfels’ weiße Ratten erinnerten. Da hätten noch ein paar Chancen mehr genutzt werden können.