Dass wir im Zustand der Verliebtheit zu Infantilismen neigen können, ist eine Erfahrung, die alle kennen, die schon einmal in einen fünften oder siebenten Himmel entrückt wurden. Warum sollten Tonkünstler von solchen Anwandlungen frei sein? Vielleicht sind nicht wenige von ihnen in tieferen Zonen vergleichsweise ‚normal’ veranlagt und, obwohl das Publikum sie gerne erhöht sehen möchte, im Sinne Bertolt Brechts keineswegs „etwas ganz Besonderes“.
Die Anfälligkeit für heiteren Irrationalismus, verniedlichende Tiernamen, schmusende Bekundungen der einen oder anderen Art in Zeiten des Liebesfrühlings betrifft jedenfalls auch Künstler, deren Œuvre mit kühl-sachlichen Prozessen konnotiert wird – zum Beispiel Heroen der neuen Klänge, die in der Hoffnung, alten bösen Verstrickungen der Musik zu entkommen, im Laufe der 50er Jahren sich anschickten, möglichst sämtliche Zonen ihres Geschäftsfeldes tonal zu entkernen, durchzurationalisieren und durchzustrukturieren (es schlug die Stunde der „Parameter“). Nach anfänglichen Aktivitäten auf dem in Köln ergiebigen Feld der volkstümlichen Musik und, ab 1951, der Profilierung als besonders konsequenter Konstrukteur der Neuen Musik gelangte Karlheinz Stockhausen zwischen 1962 und 1972 mit einigen Veränderungen in seinem Leben und der Arbeit an den „Momenten“ zu etwas, was er selbst als neue große Freiheit empfand (und wir heute vermutlich als Ausgang aus selbst mitverschuldeter Zwanghaftigkeit). Die in Köln offiziös gepflegte Stockhausen-Hagiographie schreibt auch an diesem Punkt die Selbststilisierungen des Dichter-Komponisten in gewünschter Weise fort und suspendiert sich von den naheliegenden kritischen Rückfragen.
Erinnerung an den Windzug, das Gerappel und den Marschtritt einer randständigen Freiheit bot nun ein Konzert in der Philharmonie. „Kommt herein“, singt die engelsblau auf die noch ziemlich leere Bühne geschwebte, mit beglückend kindlicher Stimme anhebende, dann mit seraphischem Sopran abhebende Julia Bauer: „Kommt doch herein“. Tatsächlich öffnet sich eine Tür seitwärts in halber Höhe. Ihr entströmen die vier Chorgruppen, die 13 Instrumentalisten und der Dirigent, die für den langen Abends auch vonnöten sind. In kleiner Prozession (die zugleich als dezentraler Karnevalszug gesehen und gehört werden kann) ziehen sie unter Einsatz ihrer Maulwerke und etwas Geräuschkulisse an die für sie vorgesehenen Plätze.
Die Zelebration beruht auf Texten und Sprach-Partikeln verschiedener Provenienz. Bei denen stehen Worte des Meisters selbst an erster Stelle, gefolgt von Briefpassagen seiner Geliebten Mary Bauermeister, Passagen aus dem der salomonisch-königlichen Liebe geweihten Hohen Lied, Rufen der Südsee-Trobriander, „üblichen Publikumsreaktionen des Zuspruchs und der Ablehnung“ („Pfui!“, „Aufhören!“), unmittelbar sinnfreien Silben etc. etc. Absichtsvoll wurden Momente von Laienspiel, frühkindlicher und schulischer Musikerziehung ins Repertoire der Klangabschnitte integriert (Stockhausen war von Hause aus Schulmusiker). Gerade auch mit solchen Momenten wollten und sollen die „Momente“ ein neues Verhältnis von Kunst und Leben vorführen.
Das mit erheblichem Aufwand in Gang gesetzte Singen und Rufen, Scharren und Schäkern, Gurren und Kichern, Hecheln und Klatschen weist deutliche Verwandtschaften mit anderen musiktheatralen Happenings der 60er Jahre auf. Mit ihnen artikulierte sich in der Adenauer-Ehrhard-Kiesinger-Ära ein libertäres Gefühl. Dabei ging es (angeblich), aber bei Stockhausen im Besonderen, um „rein ästhetische“ Freiheit (von deren Möglichkeit oder gar realer Existenz waren damals nicht alle überzeugt und sind es auch heute nicht). Der biographische Anlass für den Freiheitsgesang der Stockhausenschen Art war die sich anbahnende und dann Bahn brechende Dreiecks-Beziehung zwischen Gattin Doris, dem Meister und der zunächst als Pastell-Malerin, dann als Fluxus-Aktionistin tätigen Bauermeister, die für einige Jahre Stockhausens nächste Ehefrau wurde. Ein eher banaler Anlass, der in tausenden von Varianten in allen Gesellschaftsschichten jahrein- und aus vorkommen kann und stattfindet, bei dem es freilich – ästhetisch gesehen – darauf ankommt, wie er gegebenenfalls Text wird und Zeichen setzt.
Womöglich würde heute so manche(r) gerne von den einst momentan bedingten Texten der „Momente“ absehen, sie „überhören“ (wobei das, was die an der Sache vorbeizielenden Begleittexte eines embedded journalism als „onomatopoetische Wörter“ rühmen, noch die geringsten Steine des Anstoßes darstellen). Doch, es ist nicht zu ändern, eben mit diesem ziemlich unsäglichen Text-Konglomerat entfaltet sich eine attraktive Vielfalt von Chorgesten und Solo-Sprecher-Einlagen, von dazwischenfahrenden Blechbläsereinsätzen, elegischer Gesangslineatur und verhaltenem Synthesizer-Zusatz. Pappröhren, Holzstäbe und Tamburins werden ergänzend traktiert – und die Klatsch-Orgie, die den ersten Teil beschließt, ist ein gruppendynamisches Spiel, das Heiterkeit weckt. Werkgeschichtlich ist die Schlüsselstellung der „Momente“ zwischen den Stockhausenschen Arbeiten der 50er Jahre und dem Riesen-Zyklus „Licht“ nicht zu übersehen und zu überhören. In Köln wurde aus den verschiedenen Fassungen, die sich durch das Ad-libitum der Anordnung von Formteilen immer noch vermehren kann, die „Europa-Version“ von 1972 ausgewählt.
Peter Eötvös, 1966 aus Budapest in den Westen gekommen und von 1969 an sieben Jahre lang Instrumentalist und Tontechniker im Team Stockhausen, dann Chefdirigent des nun auch beim aktuellen Konzert zum Einsatz gebrachten Ensemble intercontemporain (Paris), leitete im Rahmen der Kölner Konzert-Serie zu seinem 70. Geburtstag auch die „Momente“ mit hellwacher Präsenz, distinguiert-freundlich fast durchgängig mit flachen Händen und einem nur gelegentlich erhobenen Zeigefinger. Eötvös, es ist nicht zu übersehen und zu überhören, ist mit und in dieser Musik zuhause. Er dürfte an sie glauben, ihr Kreisen um Fragen und Artikulationsformen der Liebe lieben und auf ihre kommende Wirkungsmächtigkeit hoffen. Die Konzerthalle beim Hauptbahnhof war allerdings elend schlecht besucht. Der Veranstalter hielt es noch nicht einmal für nötig, die Namen von Komponist und Werk auf die Titel- und Frontispiz-Seiten des Programmhefts zu drucken.