Wie man mit bescheidenen Etat-Mitteln Charles Gounods Opéra lyrique „Roméo et Juliette“ zum spannenden Drama machen kann, erlebte man mit dem Theater Nordhausen und den Thüringer Symphonikern vor einer Woche in Saalfeld. Zur Premiere an der Berliner Staatsoper Unter den Linden fielen dagegen fast alle Edelsteine aus dieser französischen Opernkrone. Es gab eine arglos dünne Regie der von Intendantin Elisabeth Sobotka von Bregenz nach Berlin geholten Mariame Clément, ein unentschieden glückloses Dirigat von Stefano Montanari und für ein A-Haus relativ viele matte Besetzungen. Lichtblicke waren Elsa Dreisig (Juliette), Marina Prudenskaya (Gertrude) und Johan Krogius (Tybalt).
Schöner wohnen mit Staatskapelle-Sound: Berlins Lindenoper verspielt Gounods „Roméo et Juliette“
Bürgerkriegsartige Kämpfe, die eskalieren, und eine Liebe blutjunger Menschen, die im Leben keine Erfüllung findet: Shakespeares „Romeo und Julia“ rührt, wenn man als Produktionsteam nicht alles ganz falsch macht, an Herz und Nieren des Publikums – egal ob als Film, Schauspiel, Tanz oder eine der vielen Opern. Charles Gounods für Paris 1867 entstandenes Superstück vereint relativ dichte Shakespeare-Nähe mit allen effektvollen Strickmustern der französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Ein Selbstläufer – sollte man denken. Bei der Premiere in der Berliner Lindenoper stockte die ehrliche Applauslust in den ersten zwei Stunden und kam erst bei den großen Trennungs- und Sterbeszenen auf. Doch für eine ehrliche Begeisterung herrschte bis zum Schluss zu viel Künstler*innenpech.
Sie wolle die Tragödie direkt aus der Perspektive der „Liebenden von Verona“ erzählen, sagte die Regisseurin Mariame Clément. Die Rowdy-Gang (Montagues) und die liquiden Biedermänner (Capulets) brachte sie nur matt und träge ins Bild. Die Gesellschaftsszenen mit lahmen Tänzchens besserer Kreise sollten langweilig wirken, waren aber auch in der künstlerischen Wirkung abgestanden. Auch die Kämpfe mit den als Anzug-Pappnasen düpierten Mittelschichtsmännern gelangen weniger explosiv als schmalspurig. Und die zentrale Liebesszene nach den tödlichen Zweikämpfen machte den Eindruck einer Karikatur auf mittelmäßige Coming-of-Age-Movies. Julia Hansens Bühne zeigte dazu weiße Kasten-Eigenheime und Interieurs mit Pastellfarben aus der Bestenliste von „Schöner wohnen“. Die Kostüme hatten einen nicht ganz billigen und doch wenig exquisiten Chic. Eine Turnhalle mit angegrauter Wand und der Nebenraum einer Leichenhalle machen noch lange keine soziotopographische Differenzierung. Und Schmetterlinge gab es statt im Bauch der Figuren nur auf einer Leinwand. Emotionen und Aggressionen erreichten aufgrund Regie-Hilflosigkeit nicht die Differenzierung und Spannkraft des Textbuchs von Michel Carré und Jules Barbier. Traurig. Man hätte Elisabeth Sobotka zur zweiten Neuproduktion ihrer Intendanz an der Berliner Staatsoper ein glücklicheres Resultat gewünscht. Ideen-Höhepunkt: Ein Frère Laurent (solide: Nicolas Testé), der sich als Lehrer direkt im Klassenzimmer eine Zigarette gönnt.
Ganz große Oper als Durschnittsware
Die Ballettszene war nicht gestrichen. Sie wurde szenisch gefüllt durch eine Gruppe von Juliette-Doubles, die sich mit blauen Haaren in den durch Elixier herbeigeführten Scheintod tanzen. Der von der Alten Musik kommende Dirigent Stefano Montanari hatte da und im Eingangschor des Balls bei Capulet die besten Momente. Zwischen grellen Bläserfarben und matten Streicherlinien fehlten ihm weitgehend alle Farben von Passion und Parfüm, welche Gounods „Roméo et Juliette“ zu einem manchmal falsch verstandenen, aber von New York bis London geliebtem und in Deutschland seit circa 20 Jahren anerkannten Opernhit machen.
Das Ensemble regierte mehr schlecht als recht, der Chor (einstudiert von Dani Juris) chargierte in szenischer Selbsthilfe. Tiefere Männerstimmen mit angemessener Eleganz und Kultur gab es an diesem Abend weder für den sein Solo im ersten Akt komplett singenden Capulet (Arttu Kataja) noch für Mercutio (Jaka Mihelač), dem das falsche Tempo die Fee-Mab-Ballade verhagelte. Ema Nikolovska forcierte als Stéphano wider besseres Wissen und aufgrund fehlender Anleitung. Lichtblicke im Cast waren ein in anderer Umgebung zum Glänzen befähigter Tybalt (Johan Krogius) und hier als Minipartie positiv auffallender Paris (David Oštrek). Jeder Zoll eine kollegiale Primadonna auch bei kleineren Aufgaben wie Gertrude ist Marina Prudenskaya. Und der frühere, jetzt als Gast zurückkehrende Ensemblestern Elsa Dreisig? Nach Donizettis Tudor-Trilogie in Genf gibt sie eine Juliette mit Selbstbewusstsein und vokaler Luxus-Zentrierung – in bestmöglichen Kontrast zum ihr von der Regie abverlangten Teenie-Dauerschmollen. Amitai Pati sang einen Roméo-Tenorino, dessen rote Lederjacke mehr beeindruckte als seine von der Staatskapelle Berlin mehrfach überrauschten Höhen. Effekt machten die Gartenmöbel und Juliettes Stofftiersammlung – natürlich mehrheitlich in Pink. Ganz große Oper als Durchschnittsware.
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