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Winter. Foto: Hufner
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Schubert ohne Romantik: „Dresdner Winterreise“ als Projekt der Mitmenschlichkeit

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Dieses Bild war neu im Osten Deutschlands: Menschen ohne Obdach, Menschen, die hungern und betteln. Ein musikalisches Projekt unternimmt den Versuch, ihnen mehr als nur Almosen zu geben. Was sie brauchen, ist Aufmerksamkeit.

Während in Dresden diesmal am Sonntag die Empörten und die von den Empörten empörten gemeinsam mit empörend raumgreifender Polizei das städtische Leben wieder weitgehend lahmlegten – und so einmal mehr für überregionale Schlagzeilen sorgten –, herrschte in der Kreuzkirche ein ganz erstaunlicher Kontrast. Bei freiem Eintritt war dort zur „Dresdner Winterreise“ geladen, einem Projekt der Treberhilfe e.V., die sich seit 1996 um wohnungslose Menschen kümmert.

Denn neben vielem anderen, was sich seit 1989/90 geändert hatte, war auch dieses Bild neu im Osten Deutschlands und so auch in der sächsischen Landeshauptstadt: Menschen ohne Obdach, Menschen, die hungern und auf Almosen von anderen angewiesen sind. Zuvor hatte es das nicht gegeben: Menschen, die betteln – inzwischen ist auch das ein gesamtdeutsches Phänomen und wird seitdem ebenso gesamtdeutsch allzu gern übersehen. Man tut so, als würden diese scheinbar aus der Gesellschaft geratenen Frauen und Männer gar nicht wahrgenommen, als wären sie nicht existent. Viele von ihnen geraten schon im jugendlichen Alter auf die Straße, manche hoffen auf irgendein Später, andere haben diese Aussicht schon längst als Illusion abgetan.

Die „Dresdner Winterreise“ nahm genau dieses Problem in den Fokus und gab den aus was für Gründen auch immer zu Unbehausten gewordenen Menschen ein Podium. Geschickt in Franz Schuberts Liedzyklus eingewoben wurden da Schicksale von Kindern und Jugendlichen, deren Authentizität sich wohl niemand im andächtigen Publikum zu entziehen vermochte. Da bekamen bekannte Zeilen wie „Fremd bin ich eingezogen“ plötzlich einen ganz anderen, vielleicht den ursprünglichen Sinngehalt eines völlig vereinsamten Menschen. Wilhelm Müllers Dichtung jedenfalls, deren Tragik auch sonst so berührt, ging hier unter die Haut. Denn alles ist Abschied in diesem Zyklus, alles ist die Suche nach einem Dach über den Kopf, nach einem Zuhause. Doch jeder Traum, ob vom Frühling oder von Liebe, macht das Leiden nur noch deutlicher, das aus Enttäuschung und Tränen, Rückblick und Irrlicht besteht, das von keiner Post, keiner Botschaft aufgehellt wird, das scheinbar unvermeidlich auf Grab und Leiermann zusteuern muss.

Man hätte nur diesen Liedern lauschen und auch so verstehen können, wie heutig die in den Worten enthaltenen und von Franz Schuberts Musik so ergreifend genial vorgeführten Schmerzen sind. Doch diese „Dresdner Winterreise“ ging mit drastischen Osts- und Realitätsbezügen noch weit darüber hinaus. Schauspieler trugen zwischen den einzelnen Stücken Gesprächsausschnitte vor, in denen Betroffene aus ihrem Leben berichten. Da wird das alltägliche Wegschauen aus der anderen Perspektive bewusst, das Herablassende „Geh arbeiten“ oder die vermeintliche Großzügigkeit, mit der mal ein Euro in die bettelnde Hand gelegt wird. Schonungslos berichteten die Akteure aber auch von den Ängsten, von brutaler Gewalt in der Familie, im Jugendwerkhof, in der Psychiatrie oder auch auf der Straße. Drastischer kann man es kaum ausdrücken: „Hast Du schon mal in der Zeitung gelesen 'Wildschwein verprügelt Obdachlosen'? – Nein? Dann weißt Du, warum ich lieber im Wald schlafe.“

Selbst die Flucht in die Drogen wird in manch einer Darstellung verständlich und teilweise nachvollziehbar, warum sie auch mit Begleitumständen wie Panikattacken und Verfolgungsängsten in Kauf genommen wird. Und immer schwingt die begründete Sorge mit, für das mühsam erschnorrte Geld an schmutzigen Stoff zu geraten.

Gewiss sind viele Menschen im Publikum noch nie zuvor so eindringlich mit dieser Problematik konfrontiert worden. Auch werden sie die „Winterreise“ noch nie in einer solchen Konstellation erlebt haben: Klavier und Orgel, in einigen Stücken auch jazziger Kontrabass, begleiteten mehrere Sängerinnen und Sänger, die mal vom Altarraum, mal von der Empore aus, ganz oft aber auch durchs Kirchenschiff schreitend die Nähe dieses Liedzyklus‘ vortrugen.

So vielgestaltig wie diese „Dresdner Winterreise“, so unterschiedlich können auch die Umstände sein, wegen der Menschen ihre Bleibe verlieren. Denken wir daran, wenn wir durch unsere reklamebunten Städte gehen und bewusst oder unbewusst „sortieren“, wen wir als Mitmenschen anzunehmen bereit sind?

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