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Morgen und Abend © 2016, Marcus Lieberenz
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Schwebende Farbwerte im grauen Spektrum – Georg Friedrich Haas’ „Morgen und Abend“ an der Deutschen Oper Berlin

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Die im November vergangenen Jahres am Royal Opera House Covent Garden in London uraufgeführte Oper des österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas erlebte jetzt an der Deutschen Oper Berlin eine faszinierende deutsche Erstaufführung.

Das siebente Musiktheaterwerk des 1953 in Graz geborenen Komponisten basiert auf dem Roman „Morgen und Abend“ von Jan Fosse, einer lethargischen, aber gleichzeitig auch hoffnungsträchtigen, konfessionell ungebundenen, stark monologisierenden Szenenfolge über Leben und Tod. Der erste Abschnitt dieses pausenlosen, anderthalbstündigen Musiktheaters konfrontiert das Publikum mit dem „Morgen“ eines Lebens: melodramatisch breit geschildert und von Fischer Olai, dem Vater, assoziativ reflektiert, versinnlichen Haas’ Klänge die Geburtsstunde des Johannes.

Der Rest des Bühnenwerkes erzählt dann vom „Abend“ jenes Lebens des Johannes – und tut dies kurioserweise aus dessen Sicht. Er begegnet Erna (der faszinierenden Altistin Helena Rasker), seiner Frau. Erst langsam wird dem Zuschauer, der diese Oper das erste Mal erlebt, klar, dass Erna nicht mehr lebt. Deutlicher wird die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung, wenn die Tochter zu Johannes im Bett spricht, obgleich dieser es bereits verlassen hat. Johannes’ Freund Peter (großartig der Tenor William Hartmann), ebenfalls längst tot, kommt, um mit Johannes zum Fischen auf die See hinauszufahren.

Wie in Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“ blickt der Zuschauer in eine vertraute und doch unwirkliche Versuchsanordnung eines kalkig weißen Raums ohne Horizontlinie zwischen Himmel und Erde. Eine praktikable Tür im frei aufgestellten Rahmen, zwei Stühle, ein Sessel, ein Bett, ein auf dem Boden liegender Schirm, sowie ein Fischerboot auf der unmerklich im Uhrzeigersinn kreisenden Drehscheine, darüber ein verfahrbarer HMI-Scheinwerfer, symbolisieren den Ablauf eines einzigen Tages, zugleich „Der Traum ein Leben“ wie „Das Leben ein Traum“. Der strukturbedingt wandernde Scheinwerfer gemahnt an Haas’ Concerto „Hyperion“, wo das Orchester in den vier Ecken des Raumes sitzt und wechselweise stärker oder weniger von der jeweiligen Lichtquelle angestrahlt wird. Den Transformationen, um sich selbst kreisenden Klangstrukturen der Partitur und ihrer zyklischen Bewegung entspricht das sich unmerklich drehende und dadurch seinen Gesamtaspekt ständig verändernde Bühnenbild von Richard Hudson. Langsam aus der Zeit geratene Bewegungsabläufe werden in Graham Vicks Inszenierung konterkariert mit raschen, quasi profanen Abgängen.

Ungewöhnlich ist der Einsatz des Mediums Video (59 productions) in dieser Produktion: der gesungene Wortlaut, welcher bei anderen Opernabenden als Projektion über dem Bühnenportal zu lesen ist, erscheint hier als langsam entstehendes und verwehendes Schriftkunstbild auf der Rückwand des Raumes, wie in den Sand geschrieben.

Stille des Wartens

Von Dirigent Michael Boder stringent geleitet, erzeugt das Orchester der Deutschen Oper Berlin schwebende Klänge. Stille des Wartens erwächst aus der Musik, ein allmählich entstehendes, immer breiteres Spektrum, eine Schule des Hörens von Farbwerten. Die Streicher, gemischt mit einem einsamen Akkordeon, erzeugen in der ersten Szene nur den Klang einer leeren Quint, die sich langsam füllt. Mit glissierenden Aufwärtsskalen durch die in Viertel- und Sechzehnteltöne aufgebrochene Tonalität scheinen sie sich endlos weiterzuentwickeln und doch stets zu kreisen – um die eine Frage nach dem Übergang – auch mit Glissandi, gestopftem Horn, Trompeten und Posaunen. Ganztonskalen abwärts dann bei Johannes’ Statement „Das ganze Leben bin ich Fischer gewesen!“

Rechts und links über den ersten vier (leeren) Zuschauerreihen sind zwei Türme für Schlagzeugbatterien errichtet. Mit heftigen Schlägen auf die große Trommel wird dem Zuhörer die Geburt als ein gewaltvoller Akt in Kopf und Magen gedonnert. Später setzen Xylophon, Becken, Glocken und Ratsche malerische Akzente. Hinter der Szene symbolisiert der unsichtbare Chor metaphorisch die Schreie des Neugeborenen.

Die Hebamme verkündet das frohe Ereignis tonal, mit spätromantischem Wohlklang. Nach der melodramatischen Erzählung der ersten Szene, wirkt der Einbruch von Operngesang gewaltig. Der plötzlich, wenn auch in Moll, einsetzende Wohlklang entspricht dem tonalen Gesualdo-Zitat inmitten des in völliger Dunkelheit zu spielenden 3. Streichquartetts dieses Komponisten.

Der unsichtbare, tonal schwebende Chor der Deutschen Oper Berlin, einstudiert von William Spaulding, dazu Röhrenglocken, sorgen beim Rezipienten für eine veränderte Wahrnehmung, gemeinsam mit dem Protagonisten. Bei „wie ruhig die See heute ist“, sitzt Johannes (Christoph Pohl mit sonorer Stimmgebung und Facettenreichtum) mit ins Orchester baumelnden Beinen am Graben.

Wie in einem anderen Zustand

Summende Chöre im Off, wie sie seit Franz Schrekers „Der ferne Klang“ als ein die Sinnlichkeit steigerndes Attribut im Musiktheater Verwendung finden, setzt auch Haas als Steigerung ein. Als sich Johannes gegenüber seiner Tochter, die ihn täglich besucht, aber heute nicht wahrzunehmen scheint, versucht, bemerkbar zu machen, schreit sie, „Etwas ist auf mich zugekommen!“, – und der Herrenchor summt ein „Ah“.

Violinen im Flageolett unterstreichen Peters „Du bist jetzt auch tot, Johannes“. Seine Aussage, „Alles, was du liebst ist dort, was du nicht liebst, ist nicht dort“, unterstreicht der Chor wie vehement aus dem Jenseits. Als ein komponiertes Durcheinander, wie so gern in Haas’ Kompositionen, singt der gemischte Chor sein „Dort!“, und das Klingeln wird schrill. Für den Übergang in eine andere Seinsform entfaltet Haas eine extrem hohe, extrem laute Klangwolke, die beiden Solisten sind jedoch weiterhin hörbar, aber ihre Stimmen klingen ohne die überdeckten Obertöne andersartig, wie in einem anderen Zustand.

Die in Haas’ Kompositionen sonst stärker anzutreffende Mikrotonalität im Gesang ist in dieser Partitur reduziert auf die Rolle der Signe. Die gebotenen Viertel- uns Sechsteltöne singt Sarah Wegener so präzise, dass auch das Orchester sie übernehmen kann.

Hochwertig besetzt ist der die erste Szene monologisierend gestaltende Olai mit dem Schauspieler Klaus Michael Brandauer: wartend auf die Geburt seines Sohns Johannes, reflektiert er apathisch über dessen Ankunft in einer für ihn noch ungewohnten Welt.

Bei den letzten gesungenen Worten der Oper, „im leichten Wind“, verwehen schließlich die Buchstaben dieser Information in der schriftlichen Projektion.

Wie bei Haas’ Streichquartett und in Passagen seiner Komposition „in vain“, die in völliger Dunkelheit erklingen, ist in „Morgen und Abend“ am Ende das Licht im Orchester erloschen, die Stimme von Signe schraubt sich hoch und höher, a cappella – volle Dunkelheit.

Nach längerer Stille entfachte des Premierenpublikum im nicht voll besetzten Auditorium ungeteilte Begeisterungsstürme, auch für den anwesenden Komponisten.

  • Weitere Aufführungen: 3., 11. und 22. Mai 2016.

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