Das Datum ist nicht unwichtig, ist es doch das, an dem alle bösen Halloween-Geister ihre Macht verlieren. Eigentlich! Aber die Oper ist als Institution zugleich eine mit bewahrender Tendenz. So lässt sich Schwerins jüngste Inkarnation von Sinnlichkeit durchaus als Gegenbild zum berauschenden Karneval sehen, der am Folgetag begann. Mit dieser neuen „Carmen“ aber wird Halloween fortgeführt und ins Neue Jahr gerettet. Ein buntes Bühnengeschehen wird den Besuchern vorgesetzt, an dem Menschen, Geister und merkwürdiges Getier beteiligt sind, das sogar chorisch singen kann. Sie müssen sich jedoch darauf einlassen, dass Carmen, eigentlich professionelle Zigarrendreherin, zum Vampir mutiert wurde und statt Rauch Blut inhaliert. Sie findet den zum Weiterleben nötigen roten Körpersaft vor allem bei lüsternen, im besten Fall jungen Männern. Trinkt sie ihn, kann sie unsterblich leben, der Mann muss sterben. Ob das emanzipatorisch zu deuten ist, sei dahingestellt, da es eine absolute Abhängigkeit vom ehemals starken Geschlecht belegt. Auf jeden Fall muss sie schlagartig Sevilla verlassen und eine Gebirgs- und Waldlandschaft in Böhmen oder den Karpaten aufsuchen.
Diese mythische Verstrickung fanden Anna Weber, Sina Manthey, von Lina Wittfoht unterstützt, und Stella Lennert. Sie bilden zusammen ein blutjunges Team, dazu noch ein rein weibliches. Die erste in ihm sorgte als Regisseurin für Carmens neue Existenz und innere Konsistenz, die beiden folgenden machten sich Gedanken, wie alles Geschehen südosteuropäisch verortet werden kann. Die letzte half, dass Carmen und alle um sie herum sich nachhaltig kleiden. Unsterbliche müssen das praktischerweise. Was das Quartett eint, ist eine überbordende Phantasie. Die war mythologisch durch eben die blutsaugenden Nachtgestalten inspiriert. Sie bieten für eine Regie unzweifelhaft Vorteile, da ihnen mit Logik nicht beizukommen ist. Zudem sind sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Liebe und Begehren kann einfach als Lust auf Blut erklärt werden, ist es ihnen doch Lebenselixier. Nützlich ist zudem, dass sie fliegen können. Auf- und Abtritte sind so einfach mal nach oben zu vollziehen, wenn es brenzlig wird. Ein Nachteil ist nur, dass die Seile, an denen sie hängen, verraten, dass sie fremdgesteuert sind.
Um alles Geschehen dieser Sicht unterzuordnen, werden Rezitative, gelegentlich auch Arien, textlich angepasst, auch kurze sprachliche Szenen eingeschoben. Zudem gibt es musikalische Einsprengsel, zumeist an Bizet erinnernde, aber auch Klangcluster von geheimnisvollem Schwirren. Das Orchester schien Lust daran zu haben, nicht Routine zu spielen. Und Mark Rohde, ihr GMD, vergaß häufig, dass nicht Spanisches, sondern Vampirisches zu untermalen war, man möchte schreiben, zum Glück. Wie fein das Instrumentale unter anderen Bedingungen hätte wirken können, hörte man bei den Vor- und Zwischenstücken. Dass sie beim Publikum nicht angemessen gewürdigt wurden, ist unverständlich, ihm schienen einzig die Gesangshits würdig für Zwischenapplaus.
Da alles in sich stimmen sollte, mussten wegen der veränderten Rahmenbedingungen etliche Personen verfremdet werden. Der arme Don José zum Beispiel stand immer etwas nachdenklich herum, wie nicht ins Gefüge passend. Er hatte wohl einfach nicht verkraftet, dass er einer Vampirin auf den Leim gegangen war. Micaëla bekam eine weich fließende, hellblaue Kutte verpasst, wie auch all die Kinder, die ihr wie einer Zuchtmeisterin folgten. Zudem entstellten sie lange gelbliche Wimpern so sehr, dass Don José sie verständlicherweise nicht küsste. Das Motiv Eifersucht konnte also einfach in den Orchestergraben fallen. Frasquita und Moralès, Carmens Genossinnen, (köstlich gesungen und dargestellt von Morgane Heyse und Martha-Luise Urbanek), bewiesen die Verwandtschaft der Blutsauger zu Menschen damit, da sie in Freundschaft, einem durchaus menschlichen Gefühl, verbunden waren. Sie wirkten jung und flippig und geiferten ständig nach männlichen Hälsen, während Carmen sich souverän und vornehm bediente. Dennoch wollte das Trio altbacken erfahren, was ihnen das Schicksal bieten würde, womit das einst „Kartenterzett“ genannte Stück diesmal keines war. Die Vampire ließen nämlich die Sterne weissagen. Dass die aber gerade einer Unsterblichen den Tod ankündigen, konnte nur ein Regiefehler sein.