An der Brüssler La Monnaie Oper stellt Oliver Py an Richard Wagners „Lohengrin“ eher die alten Fragen, als zu neuen vorzudringen. „Lohengrin“ gehört zum harten Kern jeder Wagnerbegeisterung. Nicht nur bei König Ludwig II. von Bayern und diversen anderen „Großkopferten“. Das fängt schon mit den überirdischen Grasklängen des Vorspiels an. Wenn König Heinrich nach Brabant kommt, eigentlich nur Gefolgsleute im Kampf gegen den bevorstehenden Einfall der kriegerischen Ungarn rekrutieren will und erstmal die Machtfrage an der Schelde klären muss, dann entfaltet sich schönstes Wagnerparlando für Anfänger. Und für Fortgeschrittene.
In Brabant ist der legitime Erbe des verstorbenen Herzogs verschwunden und dessen Schwester Elsa wird vom Ehepaar Telramund (sie eine Fürstin mit Migrationshintergrund und einem anderen Gott über sich!) beschuldigt den Knaben beseitigt zu haben, damit sie einer geheimen Liebschaft nachgehen kann. Elsa ihrerseits tischt der Versammlung eine haarsträubende Geschichte zu ihrer Verteidigung auf. Wenn dann, kurz bevor sie zur Sache kommt und behauptet, dass ihr ein Ritter in Lichter Waffen Scheine nahte und Tröstung eingab (was ja ziemlich deutungsoffen ist), kaum hörbar jene zwei Trompetentöne aus der Ferne erklingen, die der Wagnerianer Thomas Mann einen Gipfelpunkt der Romantik nannte, dann weiß man, dass das Wunder, auf das sie zu ihrer Rettung hofft, passieren wird und dieser Superman tatsächlich auftaucht. Einer, der „von Gott gesandt“ wurde, wie alle sofort zu wissen meinen. Außer Telramunds und ein paar Gefolgsleute, die ihren Verstand nicht in der Masseneuphorie verloren haben.
Einen Haken hat die Sache: er werde nur für Elsa streiten, wenn sein Inkognito gewahrt bleibt. Sie verspricht es. Und rettet ihren Ruf – als Frau und als Fürstentochter – indem sie sich später nicht daran hält. Sie fragt ihren Ritter natürlich nicht öffentlich. Als Friedrich Telramund sie in einem Staatsstreichversuch vor der Hochzeit dazu auffordert, hält sie noch stand. Unter vier Augen, im Schlafgemach, das die beiden nach Verklingen des „Treulich geführt“ (der Hochzeits- und Wagner- TopHit schlechthin) erreichen, aber nicht. Hier geht der Plan der Telramunds zwar auf, aber kostet Friedrich das Leben. Lohengrin muss jetzt seinen Namen und seine Herkunft nennen und wieder Richtung Gral ziehen. Und nur weil Ortrud sich nicht beherrschen kann und sich öffentlich auf Wotan beruft, gibt es eine Ausnahme von den Grals-Regeln: der legitime Thronfolger (der von Ortrud zum Schwan verzaubert worden war) wird von Lohengrin den Brabantern zu guter Letzt als „Führer“ (oder Schützer) präsentiert.
Bei Regisseur Oliver Py nennt er ihn Führer. Überfordert, mit dem was da auf ihn zukommt, ist der Knabe immer. Aber diesmal ist er tot. Dafür geisterte er vorher (ganz in schwanenweiß) dauernd durch die Geschichte.
Schicksalsschwangeres Ambiente
Im Brüssler „La Monnaie“ kommt die Geschichte vom Schwanenritter (nach 25 Jahren Pause) in einem ziemlich düsteren schicksalsschwangeren Ambiente daher. Als Bühne auf der Drehbühne. Mit einer bedrohlich imperial wirkenden, nach außen gewölbten Front aus drei verglasten Etagen. Alle Scheiben sind geborsten. Auf der anderen Seite ist das ein Bühnenportal mit Blick auf Logenrängen dahinter. Mit der Nebenwirkung, dass der (fabelhaft einstudierte) dort platzierte Chor nicht groß bewegt werden muss. Zu diesem wuchtigen Bühnenbild gehört neben einer massiven (Seiten-) Mauer, die Möglichkeit, seine Elemente nach und nach zu demontieren und den Blick auf eine schwarzromantische, postapokalyptische Stadtlandschaft oder ebensolche Mondscheinromantik mit Hochgebirgsblick freizugeben. Was logisch nur dann funktioniert, wenn man sich das Panorama aus Berchtesgaden und die deutsche Geschichte dazu denkt.
Im Setzkasten der deutschen (Geistes-)Geschichte
Als Clou gibt es vom kongenialen Ausstatter Pierre-André Weitz für die Brautgemach-Szene einen Setzkasten der deutschen (Geistes-)Geschichte. Heine, Hölderlin, Hegel und Schlegel, Grimm, Weber, Goethe und Schiller als Namensschilder in Fraktur. In den Regalfächern: Büsten von Beethoven und Goethe, dazu eine Wagnerstückecollage mit Holländer-Segelschiff, dem Eschebaumstamm aus Hundings Hütte nebst Schwert und einem Schwan. In der Mitte ein Wecker, der Fünf nach Zwölf anzeigt und dessen Zeiger beim letzten Kampf zwischen Telramund und Lohengrin zu Waffen werden. Diese Uhr steht im „Hegel“-Fach. Vielleicht ist das eine dialektische Pointe, weil es eben doch noch andere Meister aus Deutschland gibt als den Tod? …
Vor Beginn der Vorstellung trat Regisseur Olivier Py vor den Vorhang und erklärte auf französisch die Intention seiner Inszenierung. Was man davon auf jeden Fall verstand, war die Erwähnung von Wagners Schmähschrift „Das Judenthum in der Musik“ und, dass Hitler sein Manuskript zu „Mein Kampf“ auf Papier geschrieben hat, das ihm die Villa Wahnfried (und damit gleichsam in seinen Nachkommen Wagner selbst) zur Verfügung stellte. Was Py dann aber zeigt, sieht eher so aus, als hätte Wagner die Lohengrin-Partitur auf Papier geschrieben, dass er aus der Reichskanzlei des „Führers“ bekommen hat. Da passt dann auch Paul Celans, wie ein Motto an die Wand geschriebener Satz, dass der Tod ein Meister aus Deutschland ist.
Auf den Leim gegangen
Nun gibts im „Lohengrin“ ja tatsächlich Tote. Ganz sicher trifft es Telramund. Der wird aber von Lohengrin quasi in Notwehr erschlagen, als er ins Schlafgemach des Brautpaars eindringt und ihm ans Leder will. Dabei ist Friedrich Telramund im Grunde ein biederer Ehrenmann, der von seiner machtbewussten Ehefrau Ortrud mit allen Mitteln manipuliert wurde. Nicht nur, um ihn Elsa auszuspannen, sondern letztlich sogar als Werkzeug, um das (christliche) Regime in Brabant zu stürzen und die alten Götter wieder einzusetzen. Wagners Musik zeichnet den Mann, der für den König „aller Tugend Preis“ ist, so düster, wie er Lohengrin strahlen lässt. Und genau dem, was an diesen Zuschreibungen durch die Musik zu hinterfragen wäre, geht Olivier Py auf den Leim.
Ob Elsa am Ende wirklich physisch tot ist, darüber gehen die Regisseurs-Meinungen auseinander. Py entscheidet sich, der kleinen Liste mit den Toten im Stück, Gottfried hinzuzufügen. Darüber hinaus ist viel vom Krieg die Rede und da gibt es immer Tote und Zerstörung. Eine Mobilmachung ist schließlich der Grund für den Besuch des Königs in Brabant. Durch die Rezeptionsgeschichte ist es zwar kräftig und aus guten Gründen übermalt, doch hat der König immerhin das Argument „Verteidigung gegen Angriffe der Ungarn“ auf seiner Seite. Moralisch wäre er damit heute aus dem Schneider. Verteidigung war und ist zu allen Zeiten legitim. Selbst wenn sie ein deutscher König anführt. Das militante verbale Säbelrasseln des Königs (vom deutschen Reich und deutschen Schwert), hört sich von Wagner aus gesehen in die Zukunft gedacht, anders an, als wenn man die Worte in die Vergangenheit projiziert, aus der sie kommen.
Statement zu „Wagner und die Folgen“
Py nimmt sich in seiner Deutung ohnehin weniger Wagners „Lohengrin“ vor, um daraus einen packenden Polithriller zu machen. Was durchaus geht, wie zum Beispiel Katharina Wagner (Budapest/2004), Florian Lutz (Altenburg/2008), Andrea Moses (Dessau/2009) oder Tillman Knabe (Mannheim/2011) es jeweils ziemlich gekonnt durchdekliniert haben. Im Vergleich damit tritt Py mehr als einen gedanklichen Schritt zurück. Er verwendet das Stück, um daraus ein Statement zu „Wagner und die Folgen“ zu machen und ihn vor allem für die 12 dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte und ihr zerbombtes Ende in Mithaftung zu nehmen. Die Optik von Pierre-André Weitz' sinnstiftend düsterem Exemplar einer XL-Bühnenarchitektur von der dunklen Seite der Macht passt dazu. Lädierte Reichsarchitektur für großes Staatstheater ergeben so gesehen tatsächlich Sinn.
Bei der vorgeführten Inszenierung von Macht gibt es sogar eine selbstironische Fußnote. Als Lohengrin nämlich vom Heerrufer zum strahlenden Retter ausstaffiert wird, und zur Ritterrüstung, dem nachgebautem Theater-Schimmel, Engelsflügeln und Standarte auch noch eine der nun wirklich zu Tode strapazierten Requisiten-Maschinenpistolen in die Hand gedrückt wird, reicht es dem und er geht. Recht hat er, hört man sich denken.
Fahrlässig illustrierend
Auch sonst hat mancher Einfall in seiner Distanz zur Vorlage szenischen Witz. Wenn Lohengrin und Friedrich beim Gottesgericht nicht kämpfen, sondern Schach spielen. Während sich hinter ihnen ihre jeweiligen Anhänger (wo kommen eigentlich die von Lohengrin plötzlich her?) prügeln. Oder, wenn ein Athlet mit freier Brust zum „Treulich geführt“ in einer perfekten Solo-Choreografie eine Kollektion von Posen vorführt, aus der Leni Riefenstahl den Vorspann ihres Olympiafilmes hätte gedreht haben können. Anders die Trümmerfrauen, die die Eimer mit Schutt und Scherben an der Rampe durchreichen. Das wirkt aufgesetzt. Die Menschen im Mantel und mit den Koffern in der Hand, mit denen man zumindest auf deutschen Bühnen Abtransporte von Juden durch die Nazis assoziiert, wirken in der nur illustrierenden Verwendung fahrlässig.
Py interessiert sich offensichtlich nicht für die innere Struktur des Stückes. Weder für den aus dem Nichts auftauchenden Superhelden, die manipulierten Massen, Elsas Reifeprozess oder eben auch den militärischen Hintergrund der Geschichte. Er nutzt die Vorlage, um seinen Stichwortzettel abzuarbeiten, auf dem ganz oben Paul Celans „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ steht. Als ein gesetztes Ausrufezeichen hinter die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ein Satz (in dem Falle liegt der Kalauer auf der Hand) wie ein Totschlagargument. Die dialektische Brücke von da zu dem „Setzkasten“ der Geschichte, der zur ganzen Wahrheit dazu gehört, die muss man sich selbst bauen. Zweifel bleiben, ob Py das überhaupt im Sinn hatte.
Musikalisch beherzte Gangart
Musikalisch liefert der Chef des Brüssler Sinfonieorchesters Alain Altinoglu, eine ziemlich beherzte Gangart. Flotter, lauter, zugespitzter kann man sich das kaum vorstellen. Den Gipfelpunkt von Romantik hatte er jedenfalls nicht vor Augen. Eher einen Test, ob die La Monnaie Oper auch das akustische Auftrumpfen von Wagnerscher Reichsparteitagsmusik aushalten würde. Altinoglus Deutung ist originell bis extrem, hat aber die Intention der Inszenierung auf ihrer Seite, ist also insofern stimmig. Vokal ist diese Produktion ohnehin glanzvoll. Ingela Brimberg ist eine Elsa auf Referenzniveau – lyrisch und strahlend, mit tadelloser Diktion – ein Genuss. Ihre Gegenspielerin Elena Pankratova setzt mit ihrer Ortrud ihren Siegeszug durch die Wagnerpartien ihres Faches genauso überzeugend fort, wie sie es jüngst mit Venus in München oder Kundry in Bayreuth gemacht hat. Hinzu kommt, dass sie über ein immenses personenführungsunabhängiges Bühnencharisma verfügt. Allein wie sie – am Boden – ihre „Verführerinnenszene“ mit Friedrich bewältigt, nötigt Sonderrespekt ab! Eine Entdeckung ist die originelle Art und Weise, wie sich Eric Cutler den Schwanenritter anverwandelt. Auf der Grenze zwischen vital und noch lyrisch schön – ohne in Kraftmeierei oder geschlechtsloses Strahlen zu verfallen. Da hat es Andrew Foster-Williams als Telramund schwer, mitzuhalten. Er verdient aber Respekt dafür, dass er bis an seine Grenzen geht. Gabor Bretz ist ein überzeugender König (immer in Uniform, meist mit Pappkrone) und Werner van Mechelen ein überzeugender Heerrufer im Look eines bürgerlichen Premierministers. Die vier Gefolgsleute Telramunds sind ebenso sorgfältig besetzt, wie die Edelknaben.
Brüssel hat einen „Lohengrin“ von beachtlichem musikalischen Feuer und vokaler Qualität. Auch wenn die Inszenierung eher alte Fragen stellt, als zu neuen vorzudringen. Der Premierenjubel war einhellig.