Die Göttinger Händelfestspiele haben in diesem Jahr ein kaiserliches Gesicht. Es ist das der römischen Kaisersgattin (und -mutter) Agrippina. In Wahrheit ist es natürlich das von Ulrike Schneider, die da in dieser Rolle streng, machtbewusst und hintergründig von den Plakaten blickt.
Die historische Agrippina hat ihren Ruf weg. Die Nachwelt hat sie eingeordnet, wo man auch Katharina de Medici antrifft und noch ein paar andere Damen, die mit allen Wassern gewaschen waren. Bildlich gesprochen. Bei Händel und seinem Librettisten Vincenzo Grimani behält sie das Intrigenheft fest in der Hand. Will ihren, sagen wir mal verhaltensauffälligen, Sohnemann Nero als Kaiser installieren. Nach ihrem Ehemann Claudio. Und notfalls auch an ihm vorbei. Als sich in Rom die Nachricht rumspricht, der Kaiser sei ertrunken, schickt sie ihre Günstlinge in die Spur, damit sie Volkesstimme auf die Sprünge helfen. Obwohl der Herrscher nochmal davon gekommen ist, bleibt sie bei ihrem Vorhaben. Sie setzt alles in Bewegung, um den aus Dankbarkeit von Claudio als sein Nachfolger vorgesehenen Ottone auszuschalten. Den entfremdet sie erstmal von seiner Geliebten Poppea, auf die wiederum der Kaiser selbst mehr als nur ein Auge geworfen hat. Es ist ein Intrigenstadel vom Feinsten, was dieses Personal aus der überlieferten römischen Geschichte bei Händel da aufführt und ihm1709 den Durchbruch als Opernkomponist verschaffte.
Um die Frauengestalten bei Händel haben Festspielintendant Tobias Wolff und sein künstlersicher Leiter Lawrence Cummings das Programm des aktuellen Jahrgangs gruppiert. Agrippina ist eine, die es faustdick hinter den Ohren hat. Die mit den Männern spielt und sie manipuliert. Als ihre Intrige aufgeflogen scheint, geht sie nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ in die Offensive. Erklärt ihr Handeln sozusagen als alternativlos. Regisseur Laurence Dale (einst ein gefeierter Mozarttenor) enthält sich jeder auf der Hand liegenden Vergegenwärtigung mit heutigem Politpersonal. Er macht aus der Haupt- und Staatsaktion ein Kammerspiel der Intriganten, eine Parade auf dem Laufsteg der Eitelkeiten, bei der der Blick in den Spiegel genauso wichtig ist wie der in die Augen des Gegenübers. Sie sind zwar allesamt überzeichnete Prototypen, bewegen sich hier aber dennoch mit großer Selbstverständlichkeit. Mit Witz und Selbstironie. Lasziv und auf ihre Wirkung bedacht. Mit demonstrierter Freude am Erfolg jeder Täuschung und Boshaftigkeit.
Ließ sich in den letzten Jahren in Göttingen bei den Opernproduktionen programmatisch ein Wechsel zwischen eher ambitionierter Deutung und historisierender Werksicht ausmachen, so ist es diesmal ein erstaunlich souveräner Mix aus beidem geworden. Dem Bühnenbildner Tom Schenk genügen im Göttinger Theater ein silbrig-transparenter Gazevorhang, zwei riesige fahr- und begehbare Spiegelwände, in denen sich natürlich auch die Zuschauer mal wiederfinden dürfen, und eine ebenso bewegliche goldene Säule. Natürlich fehlen auch die zwei metaphorisch entscheidenden Möbelstücke nicht um die es geht: der transportabler Thron und das Bett.
In den Räumen, die man daraus mit faszinierender Leichtigkeit imaginieren kann, bewegt sich ein Personal, dessen opulente Kostüme von Robby Duiveman nicht nur catwalk-verdächtig sind, sondern quasi mitspielen. Wie unerwünscht der Kaiser ist, wird in der abstoßend ausgestellten Hässlichkeit deutlich, in der der Bass Joao Fernandes seinen Claudio orgelt. Die eitel barocke Verspieltheit des Macho-Höflings Pallante unterstreichen eine ausgestopfte Hose und der kernige Bariton von Ross Ramgobin. Von den drei Countern auf der Bühne glänzt Owen Willetts als Narciso mit kraftvollem Wohlklang und einer Schleppe am Gewand über den Jeans. Jake Arditti kombiniert als Nerone geradezu hysterische Arien-Ausbrüche mit seinem flippig perversen, kurzbehosten Aufzug und eskalierendem Brustfrei. Christopher Ainslie als Ottone stellt neben der stimmlichen Einfühlungsgabe seinen Sexappeal ob nun nun im schmeichelhaften Luxusgewebe oder Oben ohne aus. Was gerade im Zusammenspiel mit der glamoureleganten, gertenschlank blonden Poppea, in die sich Ida Falk Winland auch spielerisch hineinsteigert, zu erotischem Funkenflug führt. Das formenstrenge, schwarze Zentrum, die Spinne im Netz, ist Ulrike Schneider als Agrippina. Die verliert nur einmal, ohne Perücke und im Nachtgewand, in einem Moment der Verzweiflung und Wahnsinnsnähe, die Fassung. Die (seit ihren Hallenser Jahren) renommierte Händelinterpretin kann inzwischen dem strömenden Wohlklang ihrer Stimme Erfahrungsfacetten ihrer dramatischeren Rollen (in Kassel etwa als phänomenale Amme) hinzufügen und damit als wirklich starkes Zentrum dieses höchst typgerecht besetzten Ensembles überzeugen.
Nach dem lieto fine fügt Dale nach viereinhalb Stunden im pantomimischen Schnelldurchlauf ein amüsantes Was-aus-ihnen-wurde an. Da braucht es nur Sekunden bis sich alle gemeuchelt haben.
Musiziert wird von dem sich immer für die Festspiele zusammenfindenden Festspielorchester aus Barockspezialisten unter Lawrence Cummings mit faszinierender Frische, spannungsgeladener Eloquenz und Sinn für die innere Dramatik dieses Intrigenstücks par exzellence. Ungeteilter Jubel. Schön, dass diese Produktion nach den sechs Vorstellungen in Göttingen im koproduzierenden Staatstheater Oldenburg zu sehen sein wird. Und, dass der Rundfunk übertragen und mitgeschnitten hat.