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Heike Porstein (Der goldene Hahn), Tadas Girininkas (König Dodon). Foto: © Candy Welz
Heike Porstein (Der goldene Hahn), Tadas Girininkas (König Dodon). Foto: © Candy Welz
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Solokonzert für Koloratursopran und Politikverdrossenheit: „Der goldene Hahn“ in Weimar

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Ausgerechnet „Der goldene Hahn“ wurde im internationalen Ausland eine der meistgespielten Opern Nikolai Rimsky-Korsakows. Am Deutschen Nationaltheater Weimar verbinden sich Stephan Kimmigs poetische Dystopie, ein opulenter wie intelligenter Triumph der Staatskapelle unter Andreas Wolf und eine brillante Ensemble-Leistung.

Dabei hatten die zaristische wie die sowjetische Regierung seit der posthumen Uraufführung am 7. Oktober 1909 im Moskauer Theater Solodownikow systemimmanente Schwierigkeiten mit der glitschigen Kritik-Gallertmasse des fintenreichen Werks. Rimsky-Korsakows Vertonung des Textbuchs von Wladimir I. Bjelski nach Alexander Puschkins Märchen in Versen und Washington Irvings „Sage vom arabischen Astrologen“ aus der Erzählsammlung „Die Alhambra“ ist irritierend und klangvoll. Die Entscheidung für dieser Oper war durch frühzeitige Planungszwänge der Theater vor Beginn des russischen Eroberungskriegs erfolgt. In jeder Hinsicht korrekt: Denn das soldatische Hinschlachten der gesamten Armee erklären Rimsky-Korsakow und Bjelski für so absurd wie die erotischen Obsessionen und naiven Utopien des üppigen Spielgeschehens.

Zar Dodon ist politikverdrossen, will lieber relaxen als herrschen und an den Landesgrenzen hart durchgreifen. Da dreht ihm der nebulöse Astrologe einen Goldenen Hahn an, der ihn bei jeder Gelegenheit vor Krieg und Krisen warnt. Zar Dodon verlässt sich ab sofort auf das Spielwerk wie User heute auf ihre Apps. Beim nächsten Feldzug kommen Dodons gesamte Armee und die beiden Zarensöhne ums Leben. Der russische Landesvater selbst reagiert mit stoischer Gelassenheit und wird zum erotischen Hampelmann der wie von einem andern Stern hereinschneienden Königin von Schemacha. Am Hochzeitstag von Zar und Sultanin fordert der Astrologe diese als Frau. Zar killt Astrologe, der Goldene Hahn killt Zar. Dann erklärt der von den Toten auferstehende Astrologe die ganze Weltaffäre für Schall und Rauch. Das Volk blickt in eine Zukunft mit ungeklärten Regierungsverhältnissen.

Rimsky-Korsakows Vertonung folgt allerdings dem Werkplan seiner anrührenden Märchenopern wie „Schneeflöckchen“ und „Sadko“. Auf lyrischem Fiktionsfundament sozusagen: Neben eine ‚realen‘ Ebene mit kollektiven Problemen und erdschweren Katastrophen steht in diesen eine pantheologische, panerotische und vom bürgerlichen Wertesystem abgehobene Moralutopie. Das muss auf der Bühne für ein internationales und religionsneutrales Publikum erst einmal bewältigt und transportiert werden. Die deutschen Untertitel zur russischen Originalsprache waren in Weimar eine enorme Hilfe. Am Ende jubelte das volle Haus.

Stephan Kimmig machte sich nicht die Mühe, jedes Detail zu verifizieren und tat gut daran. Zar Dodons Söhne sind Wohlstandskinder, die über das Ausbildungsalter längst hinaus sind: Jörn Eichler (Gwidon) gibt einen sympathischen Kretin, Alim Abdukayumov (Afron) den intelligenten Intellektuellen – beider Verschwinden aus dem Geschehen fällt kaum auf und ist weder für den Vater noch für die Handlung sonderlich bedauerlich. Mit Taejun Sun als Astrologe gelingt am DNT eine äußerst spannende Verschiebung. Ein Warner wie aus der Geisterbahn mit einem immer seltener werdenden Mut zur perfiden Drastik. Wenn er und das bunte Volk nach dem Tod des Zaren übrig bleiben, ist das ein Kommentar Rimsky-Korsakows zur politischen Zukunft: Der Chorpart dehnt sich im Schlussakt immer länger, massiver und fordernder. Der Opernchor des DNT unter Jens Petereit gestaltet das sehr eindrucksvoll. Alle tragen bunte Gegenwartsklamotten (Kostüme: Anja Rabes), nur nicht die Sultanin von Schemacha, ihre dazu erfundenen stummen Kinder und der prunkvolle Goldenen Hahn. Heike Porsteins füllig-warme Warnrufe und fast hochdramatische Kikerikis haben es in sich.

Das Dekorationsteam betrieb genaue Arbeitsteilung, um Rimsky-Korsakows kompliziert-individuelle Dramaturgie sichtbar, aber nicht plump werden zu lassen. Im leicht verschobenen Raum mit Stahlsäulen betoniert Katja Haß die nicht so sein sollenden Verhältnisse. Jörg Hammerschmidts Licht ist visualisierte Poesie mit Kontur, Sinn und Form. Die Videos von Mirko Borscht begnügen sich nie mit der Bebilderung von Gesagte n: Stilistisch ausgezeichnet, da die Musik nicht entmündigend.

Kimmigs Inszenierung schärft, verdeutlicht und lässt trotzdem viele, viele Freiräume für das Unsagbare und Ungesagte. Das beginnt bei der von der Zaren-Amme zur Wellness-Hostess umgepolten Amelfa. Sarah Mehnert ist ein serviceorientiertes Kompetenzbündel für Massage und Pediküre, das allerdings immer wieder von fast spastischen Mordabsichten gegen ihren Luxuskunden überwältigt wird. An ihr zeigt Kimmig die Polyvalenz von Rimsky-Korsakows strahlend schöner Musik, die um 1900 wie nur sonst nur Mahler an der Diatonik festhält.

Dann ist Tadas Girininkas ein ungewöhnlicher Zar gegen das Prachtbass-Klischee – keine polternde Karikatur wie in der sowjetischen Auftrittstradition und kein dümmlicher Naivling, der zwangsläufig zum Gespött oder Hassfigur des Proletariats werden muss. Aber der Lack der politischen Ideen ist ab. Erst im dritten Akt geht es weiter mit der politischen Talfahrt, aber im zweiten herrscht der von Rimsky-Korsakow genial und hedonistisch zelebrierte Ausnahmezustand.

Eigentlich ist dieser Mittelakt ein erotisches Solokonzert für Koloratursopran, Orchester und einen singenden Edelstatisten für kurze Einwürfe. „Was die Sultanin da singt, ist irgendwie neben der Spur,“ sagte ein Zuschauer nach Schluss zu seiner Begleiterin. Wie wahr! Mit ihren Verheißungen, koketten Einflüsterungen, Betörungen, Forderungen und kleinen Frechheiten treibt sie Dodon in den Wahnsinn. Taktiles Interesse mutiert zum sadomasochistischen Kampfspiel. Kimmig nennt Schemecha eine „Welten- und Galaxiereisende“. Der Zar und sie fassen sich kaum an. Yiva Stenberg singt mit einer schon virtuellen Perfektion von Laszivität und Unschuld. Dodon bleibt höflich und rammelt in die Gardine. Er kommt bei seinem Liebeslied ins Krächzen und zeigt Symptome einer priapischen Paralyse. Ganz großes Musiktheater, bei dem die Kategorien von Erfüllung und Sublimation zerfließen.

Die Staatskapelle Weimar trägt Mitschuld daran, dass es in dieser halben Stunde zum Äußersten an bizarrer Phantastik kommt. Andreas Wolf ist nicht nur dem Schönklang auf der Spur und gibt diesem auch textaffine Brisanz. Das Orchester zeigt geschmeidige Muskelfasern, samtweiche Haut und taktile Bewegungskraft. Sensitivität und musikalische Energie sind in perfekter Synchronität. Rimsky-Korsakow hat uns zu Klimawandel, Krieg und dem Verschwinden der Liebe derzeit ganz viel zu sagen.  

 

 

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