„Keine Berge – trotzdem Tirol“ lautet der neue Slogan, mit dem der Tiroler Tourismusverband auf die zahlreichen kulturellen Highlights im Land aufmerksam macht und den er mit Beispielfotos architektonischer und performativer Kunst unterlegt. Die Werbung zeigt, dass man in unserer österreichischen Nachbarschaft inzwischen auch offiziell wahrnimmt, dass hochkarätige Kulturveranstaltungen und spannende Architekturlandschaften durchaus zahlreiche Gäste von auswärts anlocken und nebenbei der Region auch ein moderneres Image geben als manch heimattümelndes Kuhglockengeläut.
Man kann nur hoffen, dass auch das Klangspuren-Festival von dieser neuen Aufmerksamkeit mitprofitiert. Während landauf landab nicht wenige Hochkultureinrichtungen ihre Feigenblattveranstaltungen zu Schlagworten „Kultur für alle“ oder „Kulturelle Bildung“ mühselig in bereits vorhandene Strukturen hineinkonstruieren, wird bei dem Schwazer Festival für zeitgenössische Musik seit 1994 eine herzliche Gastfreundlichkeit gegenüber allen Interessierten ganz selbstverständlich gelebt. Schon längst fährt man nicht nur zu dem Festival, um neue Werke zu hören, sondern auch um zu schauen, um welche Formate sich das breitgefächerte Programm wieder erweitert hat und welche spannenden Orte das Leitungsteam Peter Paul Kainrath und Maria-Luise Mayr wieder aufgespürt hat.
So wurde aktuell die Internationale Ensemble Modern Akademie am Grillhof in Vill um einen familienfreundlichen Tag der offenen Tür ergänzt, bei dem neugierige Besucher nicht nur viele Arbeitsproben der jungen Musiker/-innen anhören konnten, sondern auch einen Vortrag über Neue Musik in Usbekistan geboten bekamen oder in einem Workshop die Arbeit der „Gernsingenden Falschsänger“ kennenlernen konnten. Wem der Kopf vor zeitgenössischen Klängen schwirrte, konnte sich bei der „Dickicht“-Erkundung mit dem Förster Carl Schenk im angrenzenden Wald die Bäume erklären lassen, an einer Pilzwanderung teilnehmen, zahlreiche Instrumente ausprobieren oder einfach ein Grillfest mitfeiern. Eindrücklicher könnte man nicht zeigen, dass das gemeinsame Erarbeiten zeitgenössischer Musik bei allem Perfektionsanspruch gleichzeitig lebensnah und sinnenfroh sein kann.
Das Franziskanerkloster in Schwaz ist in den letzten Jahren inzwischen schon zur festen Heimstatt für das Eröffnungskonzert der Klangspuren geworden. Mit dem historischen Kreuzgang und dem traditionellen gemeinsamen Weintrinken entsteht hier eine euphorische, gleichzeitig besinnliche Atmosphäre, die die Musikfreunde in den folgenden zwei Wochen auf ihrer Spurensuche begleitet. Auch in diesem Jahr war die große Kirche komplett ausverkauft, als das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter der Leitung von Franck Ollu mit der Uraufführung von Mauricio Sotelos „Cuerpos Robados“ den fulminanten Auftakt zum diesjährigen Spanien-Schwerpunkt setzte. Das Werk für geteiltes Orchester, Solo-Violine und Deklamator ist der Geigerin Patricia Kopatchinskaja in die Hände geschrieben.
Sotelo schildert im Begleitheft, dass er den Anfang des Werkes nachts geträumt habe, gespielt von Kopatchinskaja. Fast nicht zu glauben, dass die Geigerin und das Stück, das an die Tradition des Flamenco anknüpft, nun auch in der Realität zueinander passen. Kopatchinskaja bringt auch die gestischen und deklamatorischen Elemente mit großer Natürlichkeit und Ausdruckskraft in den Dialog mit dem Orchester ein und entsendet das Feuerwerk an Kantilenen mit berührender Intensität in den Kirchenraum. Die Begegnung Tirol – Spanien im Konzert mit dem einheimischen Schlagzeugensemble The Next Step und dem spanischen Plural-Ensemble am Wochenende drauf geriet gleichzeitig zur architektonischen Entdeckungsreise. Das Veranstaltungszentrum KiWi in der Gemeinde Absam steht vom Konzept her geradezu symbolisch für das zeitgenössische Tirol: ein Multifunktionshaus in stimmiger klarer Architektur und viel Holz mit vielen Fenstern; die Fassade des Museums ist sogar eine ganze Schaufensterfront über drei Stockwerke hinweg, so dass die aktuell ausgestellten Gegenstände (in diesem Fall farbenfrohe Gewänder) neugierig darauf machen, hineinzugehen. Im Keller eine Kegelbahn, im Anbau der Kirchenwirt, und der große Veranstaltungssaal hat eine wunderbare Akustik, die für jede Art Kammermusik geeignet ist – ein durchdachtes Gebäude, bei dem der Architekt große Fantasie hat walten lassen, um die gewünschten Funktionen in optimaler Weise umzusetzen.
Dass The Next Step mit Werner Pirchners subversivem Humor bestens vertraut sind, zeigte die hintersinnige verspielt-witzige Interpretation der „Intrada für 4, 5, 6 oder mehr SuPercussionisten“. Beat Furrers knapp halbstündiges Quartett für Schlagzeuger bildete mit seinen zarten Scharr- und Schrittgeräuschen den denkbar größtmöglichen Kontrast dazu. Die Musik zeichnete ein schemenhaftes Schattenspiel, wirkte in seiner introvertierten Bildhaftigkeit wie ein wortloses konzertantes Musiktheaterformat.
Hinter Manu Delagos Uraufführung „The Year of the Goal of the Year“ verbarg sich ein inszeniertes Hupkonzert der Fußballfans zur Torszene auf der Beamerleinwand, das in diesem Konzertzusammenhang deutlich zu gewollt
konstruiert wirkte. Das Plural Ensemble unter der Leitung von Fabián Panisello hatte ebenfalls eine ganz heterogene Mischung von Werken mitgebracht. Abel Paúl experimentiert in „Línea de Vacío“ damit, dass die Instrumentalisten vom Publikum abgewandt spielen, und erzielt so einen eigentümlichen Verfremdungseffekt. Panisellos Liederzyklus „Libro del frio“ (Buch der Kälte) nach Texten von Antonio Gameda verwebt die vokalen und instrumentalen Motive zu einer Art Sprachmusik. Da die beliebte Pilgerwanderung heuer erstmals buchstäblich im Dauerregen ertrank und die nasse Zuhörerschar sich nur noch mit schönen Konzerten trösten konnte, dürfte die Vorfreude auf das nächste Klangspuren-Festival noch größer sein als sonst. Wer bietet einem schon die Chance, den Brenner-Pass zu Fuß und nicht auf der Autobahn zu überqueren?