Giuseppe Verdi in Mailand passt immer und könnte ein Heimspiel sein. Wäre da nicht das Publikum – zur Inaugurazione spielt es stets eine der Hauptrollen.
Spanische Wand an der Scala: „Don Carlo“ zum Spielzeitauftakt
Wenn am Teatro alla Scala di Milano, der Mailänder Scala, die neue Spielzeit beginnt, traditionsgemäß stets am 7. Dezember zum Tag des Stadtpatrons Sant’Ambrogio, gehen Tradition und Rituale Hand in Hand. Vor dem Haus Protestdemonstrationen, im Inneren ein Schaulaufen der Roben.
Einmal mehr wurde aus politischen Gründen gegen den Auftritt von Anna Netrebko gewettert, vor allem aber gab es auf der Piazza lautstarke Positionierungen pro Palästina und gegen Israel, dem Apartheid und Genozid vorgeworfen worden ist. Vom roten Teppich aus wurde dies weitgehend ignoriert, da gab sich das Publikum als Hauptdarsteller, spreizten sich Stars und Sternchen im Blitzlichtgewitter, ging es um wer mit wem. In der den Ehrengästen vorbehaltenen Mittelloge konnte dieser Kontrast kaum größer sein: Mit großem Applaus wurde Liliana Segre begrüßt, Senatorin auf Lebenszeit, die den Staatspräsidenten vertreten hat und ausgerechnet neben dem Senatspräsidenten saß – die Auschwitz-Überlebende neben einem Vertreter der neofaschistischen Fratelli d’Italia!
Auf die Nationalhymne folgte der Ruf „Viva l’Italia antifascista!“, den der Rechts-Außen-Politiker Matteo Salvini mit dem Satz kommentierte „Wer in die Scala kommt, um zu schreien, hat ein Problem.“ Reichlich Opernstoff also schon vor dem ersten Takt Verdi.
Dabei ist dessen „Don Carlo“ durchaus von immerwährender Gültigkeit. Als wäre er ein Visionär gewesen, Friedrich Schiller natürlich auch, auf dessen Drama die Oper bekanntlich basiert. Geradezu erschreckend sind darin Verhältnisse unserer Zeit beschrieben, oder sollte sich in der Machtausübung mancher Herrscher bis heute gar nicht so viel geändert haben?
„Don Carlo“ ist ein politisches Stück mitsamt ergreifendem Liebesdrama, ein Vater-Sohn-Konflikt nebst deutlicher Anklage der inquisitorischen Obrigkeit namens Kirche. Ein geniales Gesamtereignis also, das unter die Haut gehen kann und zum Nachdenken anregen sollte. Die musikalischen Emotionen stehen in der Partitur, das ideelle Moment im Libretto. Wenn da noch eine fesselnde, klug interpretierende Regie hinzugekommen wäre, hätte packendes Musiktheater herauskommen können. Doch der spanische Regisseur Lluìs Pasqual hat sich damit beschieden, die Personen hübsch arrangiert auftreten zu lassen, den wunderbar singenden Chor als homogene Masse zu verstehen und nahezu konzertant agieren zu lassen, wofür er nach dem 41/4-stündigen Abend dieser vieraktigen Mailänder Fassung denn kräftig ausgebuht worden ist. Die Kostümbildnerin Franca Squarciapino hat eine historisierende Garderobe gezeichnet, mit großen spanischen Kragen, viel Gold für das königliche Paar und blutigem Rot für den Großinquisitor.
Interessant und wandelbar jedoch ist das Opulenz ausstrahlende Bühnenbild von Daniel Bianco gewesen, das hinter einem schmiedeeisernen, die gesamte Spielfläche in Höhe und Breite ausfüllenden Gitter ein haushohes Konstrukt mitwirken ließ. Unweigerlich drängte sich hier der Gedanke an eine Spanische Wand auf, die je nach Lichteinfall mal undurchdringlich marmorn gewirkt hat, mal luzide wie Pergament, sich drehen, öffnen und schließen konnte, um die einzelnen Szenen freizugeben. Imposant kam da etwa ein güldener Königspalast heraus, der sich von hinten betrachtet als hohles Konstrukt der Macht von Krone und Kirche erwies.
Das Intime der Liebesgeschichte zwischen Don Carlo und Elisabetta, die seinen Vater Filippo heiraten muss und so zur Stiefmutter des Geliebten wird, kam darin ebenso zur Geltung wie der Verrat von Eboli, die enge Freundschaft zwischen Don Carlo und Rodrigo, die persönlichen wie die politischen Intrigen – dazu, quasi als Überbau, der vorgebliche Versuch, zwischen Spanien und Frankreich Frieden zu stiften, die Aufruhr in Flandern zu schlichten und jeglichen Widerspruch durch die umheilige Inquisition zu ersticken.
Was der Regie nicht gelang, vermochte immerhin Verdis unsterbliche Musik zu retten, deren Genialität in nahezu brachialen Tutti-Orgien ebenso zum Ausdruck kam wie in charaktervollen, exzellent dargebotenen Soli. Dass Musikdirektor Riccardo Chailly bereits nach der Pause vorm dritten Akt Buhrufe erhielt und am Ende lauthals auf Ablehnung stieß, schien mir nicht nachvollziehbar. Umso mehr aber der Jubel insbesondere für den Chor und die beiden (nicht nur in ihren Rollen rivalisierenden?) Hauptdarstellerinnen. Ein Fest zweier Frauen! Anna Netrebko gab die Elisabetta mit glutvoll geerdeter Stimme und charaktervollem Spiel, Elina Garanca gelang eine Eboli mit großer vokaler Leichtigkeit und enormem Ausdrucksvermögen.
Michele Pertusi als König Filippo ließ sich in der zweiten Pause von Intendant Dominique Meyer als indisponiert ansagen, ausgerechnet vor seiner wunderbaren Glanznummer „Ella giammai m’amò!“ („Sie hat mich nie geliebt“), für die er dennoch großen Szenenapplaus erhielt. Verdienten Zuspruch auch für Francesco Meli als Infant Don Carlo, ein Strahle-Tenor, wie er im Buche steht, sowie für den Bariton Luca Salsi als Rodrigo, dessen Dominanz etwas Zurückhaltung vertragen hätte. Jongmin Park, kurzfristig eingesprungen als Großinquisitor, gab den üblen Demagogen mit schwarzsamtigem Bass, dem erst die aus dem Jenseits kommende Stimme von Filippos Vater Carlo V, gesungen von Huanhong Li und mit einer gegenläufigen Versenkung dargestellt, finalen Einhalt gebieten konnte.
Diesem Ende folgten knapp 15 Minuten Beifall, einige lautstarke Buh-Rufe für Riccardo Chailly sowie ein Buh-Gewitter für das Regieteam.
- Termine: 10., 13., 16., 19., 22., 30. Dezember 2023 sowie 2. Januar 2024
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