Der 100. Geburtstag Olivier Messiaens und der 80. seines Schülers Karlheinz Stockhausen bildeten den Ausgangspunkt der Planung. Da Pierre Boulez den gläubigen Katholiken Messiaen einmal als „französischen Bruckner“ bezeichnet hatte, wählte Winrich Hopp, der Programmverantwortliche, Bruckners Sinfonik als dritten Schwerpunkt und rückte damit Spirituelles in den Vordergrund. Was Bruckner, Messiaen und Stockhausen bei aller Verschiedenheit neben ihrem Katholizismus verbindet, ist ihr Hang zu monumentalen Konzepten.
Wie im Vorjahr bestritt wieder das Concertgebouworkest Amsterdam das erste Orchesterkonzert. Die elegante Transparenz und seidige Streicherdominanz dieses von Mariss Jansons geleiteten Klangkörpers zeigte sich bei Messiaens „Hymne au Saint Sacrement“ (1932), einem Werk mit noch periodischer Rhythmik und spätromantischer Harmonik, und setzte sich bei Bruckners Dritter fort, wobei Jansons mit flexiblem Expressivo allen Orgelassoziationen aus dem Wege ging. Bruckners Sinfonien sind Glaubensbekenntnisse, die dann durch Selbstzweifel wieder beeinträchtigt wurden. Während Sylvain Cambreling und das SWR-Sinfonieorchester mit der Siebten keine tieferen Eindrücke hinterließen, gewann die Aufführung der fragmentarischen Neunten mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle eigenes Profil. Obwohl der Dirigent die Initiative zunächst dem Orchester und dessen Konzertmeister Daniel Stabrawa überließ, kam eine intensive, großbogige Interpretation zustande, die Details wie den dissonanten Scherzo-Beginn als Mahler-Vorahnungen deutete. Dass die Romantische Symphonie beim London Symphony Orchestra enttäuschte, lag nicht allein an der ungewohnten Erstfassung, die Daniel Harding gewählt hatte, sondern an der fehlenden Formdisposition.
Zwiespältige Eindrücke hinterließen auch Philippe Herreweghe und das Orchestre des Champs-Élysées, die eigens für Berlin Bruckners Achte erarbeitet hatten. Trotz der Verwendung historischer Instrumente leistete der Dirigent wenig zur Erhellung des in der Haas-Fassung gespielten Werks, sondern brachte durch sein unklares Dirigat bedauerlicherweise gerade die fabelhaften Bläser zum Klappern.
In einem repräsentativen Überblick mit 13 Orchesterwerken in 12 Konzerten war Olivier Messiaen die zentrale Gestalt des Musikfests. Das Orchestre de Paris unter Christoph Eschenbach führte bei „Les offrandes oubliées“ (1930) die aus religiösen Bildern gespeiste Kontrastdramaturgie dieser symphonischen Meditation vor: ruhig tröstenden Außenteilen, Tod und Abendmahl gewidmet, stand in der Mitte eine drastische Höllenfahrt à la Berlioz gegenüber. Das SWR-Sinfonieorchester, das sich unter Cambreling intensiv mit Messiaen auseinandersetzte, bot die nur wenig später entstandene „L’Ascension“, eine in wohligem Dur endende Himmelfahrt, in der ebenfalls noch die romantischen Wurzeln des Komponisten nachklangen, sowie die späteren „Oiseaux exotiques“ mit Roger Muraro als fabelhaftem Klaviersolisten. Nichtkatholiken mag überraschen, wie direkt der Komponist auch Privates in religiöse Bilder übersetzt. So verherrlichte er 1936 in seinen „Poèmes pour Mi“ für dramatischen Sopran und Orchester (mit der kurzfristig eingesprungenen Measha Brueggergosman) zugleich seine Ehe wie die christliche Auferstehungslehre.
Den Vergleich mit den auswärtigen Gästen brauchten die Berliner Orchester nicht zu scheuen. Marek Janowski, der hochgeschätzte Chef des Rundfunksinfonieorchesters, dirigierte die durch ihn angeregte Mozart-Hommage „Un Sourire“, eine in ungetrübtem Dur endende Miniatur. Noch mehr beeindruckte er in dem großen Orchesterwerk „Chronochromie“, das 1960 in Donaueschingen einen Skandal auslöste, durch präzise Sachlichkeit. Man bestaunte die scheinbare Mühelosigkeit, mit der das Orchester die rhythmisch komplexe Klangskulptur meisterte. Auch die ebenso scharfgeschnitten-prägnante Komposition „Couleurs de la cité céleste“ (1963), von Lothar Zagrosek und dem Konzerthausorchester einleuchtend mit Werken des Messiaen-Schülers Gérard Grisey sowie Strawinsky und Skrjabin („Poeme de l’Extase“) gekoppelt, entstammt dieser besonders fruchtbaren Schaffensperiode. Von ähnlicher metallischer Härte und Klarheit ist „Et exspecto resurrectionem mortuorum“, ein Jahr später zur Erinnerung an die Toten beider Weltkriege geschaffen. Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker boten hier eine maßstäbliche Aufführung, die viel mehr überzeugte als einige Tage zuvor die grell übersteuerte Wiedergabe der Turangalila-Symphonie.
Wie Bruckner bezog auch Messiaen seinen Mut zu künstlerischer Eigenwilligkeit, etwa im Hang zu Vogelstimmen, aus tiefer Religiosität. Es scheint aber, als müsse man – ebenso wie im Schaffen Kurt Weills – einen europäischen und einen amerikanischen Messiaen unterscheiden. Seine „amerikanischen“ Werke, wie die für das Boston Symphony Orchestra entstandene Turangalila-Symphonie, tauchte der Komponist zuweilen allzu freigiebig in süffigen Wohlklang. Auch die fast zweistündige Aufführung von „Des Canyons aux Étoiles“, zur 200-Jahr-Feier der USA komponiert, litt trotz des hervorragenden Ensemble Intercontemporain (unetr der Leitung von Susanna Mälkki) am Übermaß der lebensbejahenden C-Dur-Orgien. Umso höher anzurechnen war Ingo Metzmacher und dem Deutschen Symphonieorchester bei „Éclairs sur l’Au-delà“, komponiert für das New York Philharmonic Orchestra, die mit gut ausbalancierter Farbsinnlichkeit verbundene klare Gliederung.
Als Karlheinz Stockhausen noch kurz vor seinem Tod erfuhr, dass seine Vokalkomposition „Stimmung“ den Auftakt des diesjährigen Musikfests bilden sollte, fragte er skeptisch, ob sich dieses meditative Werk für das säkulare Berlin eigne. Er sollte sich irren: „Stimmung“, überraschend dramatisch dargeboten vom Kopenhagener Theatre of Voices, wurde enthusiastisch aufgenommen. „Gruppen“ für drei Orchester, Stockhausens unbestrittenes Meisterwerk, bildete den spektakulären Festivalabschluss. Trotz der sachlichen Konzeption hatte der knapp 30-jährige Komponist auch hier, nicht anders als Bruckner und Messiaen, klangliche Überwältigung angestrebt und ans Ende seiner Partitur ein „Deo Gratias“ geschrieben.
Da die Veranstalter die Sehnsucht nach dem Spirituellen mit dem Traum vom Fliegen verbanden und außerdem an die Berliner Luftbrücke vor 60 Jahren erinnern wollten, war das vor 50 Jahren in den Kölner Messehallen uraufgeführte Werk im Hangar 2 des Flughafens Tempelhof zu erleben. Der extreme Nachhall in der riesigen Halle war durch Dämmmaterialien von 14 auf 4 Sekunden reduziert worden, so dass sich das Korrespondieren der drei Philharmonikergruppen, dirigiert von Simon Rattle, Michael Boder und Daniel Harding, und das Wandern der verstärkten Klänge durch den Raum ausgezeichnet verfolgen ließen. Mit diesem Abend, einem künstlerischen wie gesellschaftlichen Ereignis, deutete sich bereits eine künftige kulturelle Nutzung dieser „Mutter aller Flughäfen“ (Norman Foster) an. Zu erwähnen bleibt noch Daniel Barenboim, der mit der Staatskapelle wagemutig einen ganzen Abend dem 100-jährigen Elliott Carter gewidmet hatte. Drei Solokonzerte und die deutsche Erstaufführung der „Symphonia: sum fluxae pretium spei“ verdeutlichten dabei eine Fasslichkeit, die aus dem Neben- und Übereinander nicht bloß von Stimmen, sondern von Bewegungstypen erwächst. Dagegen enttäuschte die einzige Uraufführung, ein Concerto „Séraphin“ für großes Ensemble von Wolfgang Rihm, was nicht an der großartigen musikFabrik unter der temperamentvoll-tänzerischen Leitung Emilio Pomaricos lag. Gerade der Vergleich mit Helmut Lachenmanns zuvor gespielten „Mouvement (vor der Erstarrung)“ zeigte das Eindimensionale von Rihms Konzeption.
Insgesamt hat das Musikfest Berlin seine Anfangsprobleme überwunden. Wie sich im fast durchweg guten Besuch zeigte, weiß es das Publikum zu schätzen, wenn eine kluge Konzeption neue Perspektiven auf über 40 bekannte wie unbekannte Werke eröffnet. Musikalische Gründe, nicht spirituelle dürften dabei den Ausschlag gegeben haben.