Über Geschmack soll man nicht streiten, und die alten Kriterien, mit denen man die Qualität eines Musikwerkes erschließen zu können glaubte – stilistische Konsistenz etwa, inhaltliche Aussagekraft oder gar provokative Originalität, und das auf der Basis einer gewissen Allgemeingültigkeit –, gelten schon längst als obsolet. Die Musikszene ist zersplittert und verwirrend bunt wie nie zuvor. Dieses Bild vermittelte die MaerzMusik auch im vierten Jahrgang recht eindrucksvoll.
Auf einer „offenen Plattform“ für unterschiedlichste Strömungen „aktueller Musik“ sorgte ein wohl abgestimmter Mix von Konzert und Klanginstallation, Performance und Musiktheater, Videoclips und DJ-Dance für anregende Vielfalt und nie abreißende Klangreize. Häufig gerieten die Grenzen der Genres und Stilrichtungen ins Fließen – symptomatisch dafür das Eröffnungskonzert durch die „London Sinfonietta“, in dem ein junges, eher der Clubszene zugehöriges Publikum Klassiker à la Ligeti oder Stockhausen und „Warp Works“ – elektronische Popmusik im instrumentalen Arrangement – unterschiedslos bejubelte. Ist das nun die neue Leichtigkeit der Klänge, mit der die verbiesterte E-Musik endlich aus dem Elfenbeinturm geschubst wird und jeder sich herauspicken kann, was ihm gefällt? Oder kippt das irgendwann in eine seltsame Nivellierung um, in der alles gleichgültig ist und beim fröhlichen „E-Musik goes Pop“ die „E“-Substanz langsam verschwindet?
Unter dem Stichwort „Musica Brasiliera descomposta“ war diese unterhaltsame, nur den eigenen Bedürfnissen folgende Leichtigkeit als ungemein befruchtend und erfrischend zu erleben. Da die brasilianische Konzermusik durch europäische Kolonisation entstand und als „nationale“, identitätsstiftende Elemente lokale populäre Musikpraktiken in sie eindrangen, wohnte ihr von Anfang an ein Moment der „Dekomposition“, des „postmodernen“ Verknüpfens unterschiedlicher Klangwelten inne. Noch im entlegensten Experiment, im strengsten Avantgardismus ist das zu spüren; Theorielastigkeit kann gar nicht erst aufkommen. Für sein Musiktheater „Destino das Oito“ (Schicksal um Acht) erzeugt Chico Mello äußerst komplexe und doch leicht durchhörbare Strukturen, indem er ruhige Klänge von expressiver Dichte zu minimalistischen patterns zerhackt und wieder neu übereinander schichtet – die Dramatik einer „Telenovela“ kühlt er mit distanzierenden Bossa-Nova-Rhythmen zur „Telebossa“ ab. Durch ständige Wiederholungen, gewissermaßen in der Endlosschleife, enthüllt das triviale Bühnengeschehen ungeahnte Differenzierungen, Brüche und Abgründe – bis das Verschwimmen von Fernsehrealität und Publikumssituation im Warten auf etwas nie Eintretendes denn doch ermüdet. Madalena Bernardes agiert in ihrer Mini-Oper „Aperto, meu ex-passo“ als zwitschernder, trillernder, krächzender und schreiender Kopf im Vogelkäfig, bis sie die Gitterstäbe aus eigener Stimmkraft zu sprengen vermag. Mit beweglicher Virtuosität und spielerischem Humor öffnet die Stimmartistin einen weiten Assoziationsraum von Unterdrückung und Befreiung. Die eigenwilligen Tonschöpfungen des 1937 eingewanderten Tschechen Walter Smetak (1913–1937) auf selbstgebauten, skurril anzuschauenden Drehleiern, Hackbrettern oder überdimensionalen Flöten vermischen wilde Fugato-Bewegungen mit heftigen Schlagrhythmen und meditativen, mikrotonalen Linien, ein wenig an den nicht weniger eigenbrötlerischen Harry Partch erinnernd. Silvia Ocougne hingegen überführt ihre uraufgeführte „Musik für zwölf präparierte Gitarren“ in Elektronik, die den Instrumentalcharakter auslöscht.
Den Versuch, bei allen Divergenzen zu kommunizieren, kennzeichnete niemand treffender als Mauricio Kagel mit seinem Vokalzyklus „Der Turm zu Babel“. Bei der Uraufführung des vollständigen, in achtzehn Sprachen abgefassten Werkes durch die Neuen
Vocalsolisten Stuttgart jedoch verschwammen die einzelnen Nummern genau zu jener gefürchteten Ununterscheidbarkeit, weil die einzelnen Sprachcharaktere nicht genau genug artikuliert wurden. Viel plastischer entfalteten sich die in gewitzten Text- und Lautschichtungen ebenfalls um genaues Verstehen kreisende Komposition „Gewiss“ von Jan Kopp (geb. 1971) und das in Alptraumfantasien virtuos wuchernde „Petrrohl“ von Georges Aperghis. Dem Programmschwerpunkt „Musik – Stimme – Text“ gewann ein Porträt Walter Zimmermanns eher klanglich-instrumentale Facetten ab: hier müssen die Musiker des großartigen ensemble recherche ihr eigenes Spiel mit mehr oder weniger gekonntem Gesang begleiten; diese Brüchigkeit, Unstimmigkeit zuweilen, fügt den knapp gezeichneten Stücken noch eine Schicht von Intimität, von Privatheit, von Suchen und Finden hinzu, wie sie überhaupt aus einfachsten Bausteinen hintergründige Klangbilder, eher Klangsituationen schaffen. Mit ungleich größerem Aufwand kann Sandeep Bahgwati nicht zu solcher Eindringlichkeit vorstoßen: „Inside a Native Land“, nach einem Gedicht des Komponisten die Suche nach einer nur im eigenen Inneren
zu findenden Heimat beschreibend, nennt sich „KonzertInstallation für Soloposaune, 8 Ensemblegruppen und 8-Kanal Live-Elektronik“.
Doch trotz des tapferen Mike Svoboda und seiner Mitstreiter vom Ensemble Mosaik klappte das Zusammenspiel über größere räumliche Distanzen nicht so recht und hinterließ eher den Eindruck zwar schöner und farbenreicher, aber doch beliebiger und ins Nirgendwo zielender Klänge. Äußerst zwiespältig auch der Eindruck des großen Abschlussprojekts, Dieter Schnebels monumentaler „Sinfonie X“, die am Vorabend des 75. Geburtstags des Komponisten uraufgeführt wurde. Während die experimentelle Arbeit mit der Theatergruppe „Die Maulwerker“ in den Siebzigerjahren seinen Ruf als „deutscher John Cage“ begründete, zeigt sich Schnebel hier namentlich im dritten von MaerzMusik in Auftrag gegebenen Teil, recht nostalgisch, bricht so manche Klischees seiner Vertonung eines wahren Literaturstreifzugs durch alle erdenklichen Facetten irdischer und himmlischer Liebe nur selten auf. Kontraste und Brückenschläge, Öffnungen in wechselseitige Kommentare schafft eher der rein instrumentale, vor zehn Jahren verfasste Teil, wenn etwa wuchtige Paukenschläge und grell sich aufbäumendes Blech auf der Bühne der Philharmonie in feine, von der Gegenseite heranpfeifende Linien oder geräuschhafte Impulse zerbröseln.
Auch das wohl spektakulärste Unterfangen des Festivals galt „Musik im Raum“: die „Berliner Fassung“ von Benedict Masons „felt/ebb/thus/brik/here/array/telling“, in der Urfassung bereits bei den letzten Donaueschinger Musiktagen erfolgreich herausgekommen, versetzte die kahle Industriehalle des stillgelegten Kabelwerks Oberspree in faszinierende Schwingungen. Dass diese nach langer Schiffsfahrt nur durch einen abenteuerlichen Sprung über die Wasser erreichbar war – die Reederei hatte den Landungssteg vergessen – und sich das Gefühl des Ausgesetztseins in Schneeregen und durch die Halle wehender Kälte fortsetzte, passte zu den oft zart gedehnten, sich fern im Raum ereignenden Klängen, die Mitglieder des Ensemble Modern und der Jungen Deutschen Philharmonie auf circa 600 vom Komponisten konzipierten Instrumenten produzierten (denen Elektronik ein wenig auf die Sprünge half).Vor allem von Spieler zu Spieler wandernde Tonketten von durch die Luft geschwungenen Metallrohren nahmen tatsächlich so etwas wie skulpturalen Charakter an. Dennoch wurde man das Gefühl nicht los, in einem Katalog zu blättern (für drei Räume, Dopplerwellen, Rundbogen etc.), der erst das Material für das eigentliche Stück bereitstellte.
Spannung, Entwicklung, Erzählung, Bewegung – das vermittelte eben doch wieder ein „Klassiker“, auch wenn der sich erklärtermaßen ebenfalls traditionellen Dramaturgien abhold zeigte: Giacinto Scelsis „Canti del Capricorno“, gesungen von der legendären, über achtzigjährigen Michiko Hirayama, deren brüchige Stimme ebenso berührte wie die allmähliche Wiederbelebung ihrer Energien.