An der Staatsoper Wien kommt das erste Mal überhaupt Leoš Janáčeks „Sache Makropulos“ zur Sprache. Die „Sache Makropulos“ ist eine Oper über das Ende. Über das physische eines einzelnen Menschen. Geht es doch in Karel Capeks Geschichte, aus der sich Janáček das Libretto destillierte, um den Tod und um die Frage, ob und wie man ihn künstlich hinausschieben kann oder soll.
Auch die Inszenierung von Peter Stein an der Wiener Staatsoper kommt mit ihrem einzigen, wirklich markanten Ausrufezeichen erst am Ende. Die Ouvertüre wird brav bei geschlossenem Vorhang gespielt.
Erst zum Schluss schlägt sich die gesamte dreihundertjährige Vorgeschichte des Abends wie im Zeitraffer im Gesicht der Heldin nieder. Da ist Laura Aikin nicht mehr zu erkennen, kommt aus ihrem Schlafzimmer an die Rampe gewankt und sieht aus wie eine Mumie. Das Leben der Sängerin Emilia Marty, die seit über dreihundert Jahren unter verschiedenen Namen mit den gleichbleibenden Initialen E.M. in ganz Europa Erfolg hatte, ist jetzt wirklich zu Ende. Das Zaubermittel zum Erhalt der ewigen Jugend, das der Leibarzt von Kaiser Rudolf II. Makropulos für seinen Herrn auftragsgemäß entwickelt hatte und dann vorsichtshalber an seiner Tochter ausprobieren sollte, wirkt plötzlich nicht mehr und lässt das Versuchskaninchen Elena nun doch altern. Und sie verzichtet darauf das Mittel, deren Rezeptur sie mit allen Mitteln wieder in ihren Besitz bringen wollte, erneut einzunehmen.
Die Kunst einer Inszenierung bestünde darin, vor allem die Verwüstungen und Narben, die das lange Leben und die vielen Liebhaber der Frau zugefügt haben, in der Gegenwart, in der die Oper spielt, vor allem aber im Wesen dieser Frau aufscheinen zu lassen. Der Text und die Musik erzählen davon jedenfalls. In Wien lässt Regisseur Peter Stein am Ende den Chor im Zuschauerraum aufmarschieren und das Saallicht leicht grünlich hochdimmen. Was nach überstrapaziertem Regieeinfall aussieht, ist aber nur Illustration. Um die Moral von der Geschichte, dass nämlich der Tod zum Leben gehört und es erst lebenswert macht, so nachdrücklich in den Raum zu stellen, dass die junge Kristina, die Emilia bewundert, das Papier mit der Jugendformel bewusst verbrennt. Hier gibt es keinen Zweifel, keine Versuchung. Nirgends. Die bankraubtaugliche Maske, die Stein Emilia verpasst wirkt unfreiwillig komisch.
Zum Finale eines Abends, der sich auf Ferdinand Wögebauers opulente Bühnenbilder von Akten-Ordnern gefüllter Nobel-Kanzlei, über die Staatsopern-Bühne mit Blick auf die Logen des Saales bis zur Luxussuite für die Diva verlässt und ansonsten auf’s obendrein mitunter ziemlich ungelenk wirkende Arrangieren der Auf- und Abgänge beschränkt. Dass Theaterlegende Peter Stein auf die Achtzig zugeht ist dabei kein Argument, man schaue sich nur die neuen Arbeiten seiner Generationsgenossen Kupfer oder Neuenfels an. Von Konwitschny ganz zu schweigen.
Todernst
Stein aber hat sich selbst längst zum polternden Verweigerer stilisiert und meint alles, was er macht (oder auf der Bühne weglässt) ernst. In dem Falle todernst. Wohl auch, wenn er sich selbst als konservativen ja reaktionären Regisseur bezeichnet, der nur das, was in der Partitur und im Text steht, auf die Bühne bringen will. Dabei hält doch jedes wirklich bedeutende Werk immer auch ein paar Weisheiten bereit, die klüger als ihr Schöpfer sein können. Sich auf jeden Fall aber zur Entstehungszeit und zur Zeit der aktuellen Aufführung verhalten müssen. Stein hat sich in seinen Statements und (was viel schlimmer ist) in seinen Arbeiten auf die Seiten derer geschlagen, die jedes Hinterfragen und jede Magie des Raumes offenbar für überflüssigen Firlefanz halten. Und das sieht dann eben auch so aus, umgeht ausdifferenzierte Charakterstudien, also eine packende Personenregie. Die Wiener Inszenierung ist dafür ein Lehrbeispiel. (Was aber nicht allein an Wien liegt; hier hat das Theater an der Wien der Staatsoper längst den Rang abgelaufen.)
Im Falle der Emilia Marty wird erst am Ende eine innere Tragik und äußere Größe behauptet, wo man vorher über vorgeführten kalt, gelangweilten Zynismus nicht hinaus und keine Ahnung davon aufkam, woher die Anziehungskraft dieser Frau eigentlich kommt. Laura Aikin verdient den größten Respekt dafür, dass sie jenseits des Königsweges der schillernden Diva durch diesen Abend kommt und die alberne Maskerade am Schluss mit Würde trägt.
Auch wenn die „Sache Makropulos“ für das Wiener Staatsopernpublikum, sagen und schreibe 89 Jahre nach der Brünner Uraufführung, eine Novität war, muss sie sich dem Vergleich, wenn schon nicht gleich mit Makropulos Legende Anja Silja, so doch mit der packenden Darstellung dieser Rolle durch Angela Denoke in Marthalers Salzburger Inszenierung vor vier Jahren stellen. Sowas gehört halt zum Berufsrisiko. Laura Aikin führte gleichwohl ein solides Ensemble an, in dem sich vor allem Margarita Gritskova als Krista und Markus Marquardt als Jaroslav Prus profilierten. Als Veteran scheute sich Heinz Zednik nicht, als der alte, schrullige Hauk-Šendorf, der Emilia aus einem ihrer früheren Leben tatsächlich noch kannte, am Rande des Gesangs lächerlich zu machen.
Beim Premierenpublikum und auch bei der Wiener Kritik kam diese Art von in Stein gemeißelter Szenerie an. An den hysterischen und irgendwie mitinszeniert wirkenden „Bravi“-Rufe aus zwei, drei Ecken des Parketts waren die wohl aus seiner Wahlheimat Italien angereisten Stein-Fans zu erkennen. Wobei man in den Beifall besonders für den Dirigenten Jakub Hrůša und das Orchester der Wiener Staatsoper gerne einstimmte. Der setzte vor allem auf einen kraftvoll atmosphärischen Sound. Wobei man sich ein differenzierteres Anschmiegen des Orchesters an die Sprachmelodie schon vorstellen könnte Trotz der geografischen und historischen Affinität zum Böhmischen und Mährischen hat es Janacek in Wien immer noch schwer. Insofern war diese Produktion natürlich nicht überflüssig, sondern überfällig!