Drastisch in der Handlung und schrill in den Farben serviert das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin Umberto Giordanos „André Chénier“ (Premiere: 18. Januar 2019). Die spektakuläre, zugleich ungewöhnlich üppige Inszenierung, die Roman Hovenbitzer erarbeitete, packt den Zuschauer. Expressiv und temporeich, dabei oft sinnlich überbordend, werden die chaotischen Zustände vor und während der Französischen Revolution vorgeführt, ein Zeitbild der besonderen Art! Dazwischen geraten die privaten, idealisierten Gefühle der drei Protagonisten unvermeidlich in die Nähe des Kitsches.
Ein grandioses Zeitbild
Das Libretto zum „André Chénier“ stammt von Luigi Illica, der bekanntlich auch Puccinis Opern zur Sprache verhalf. In diesem Werk lehnt er sich nur locker an die Biografie des französischen Dichters Chénier an, der 1794 mit 31 Jahren guillotiniert wurde, zwei Tage bevor Robespierre auf gleiche Art sein Leben verlor. Auch die anderen beiden zentralen Rollen neben der Titelfigur sind weitgehend erfunden, die der Maddalena di Coigny und die von Chéniers Gegenspieler Carlo Gérard. Sie müssen eigens für den dramatischen Zusammenhang sorgen. Wichtiger ist ein anderer Vorzug des Buches, mit dem Illica mithilfe einer Reihe von Charakteren die wirre Zeit lebendig werden lässt. Sie gewinnen immer wieder für eindrucksvolle Momente an Gewicht. Dazu gehört die Contessa, die Mutter Maddalenas, die nur im ersten Akt die Fäden zieht. Bedeutsamer wird Bersi, die Dienerin Maddalenas, die sich mit Leib und Leben aufopfert. Kraftvoll ist auch die Szene mit der Madelon, die in Verblendung ihre Enkel opfert. Im Zusammenhang mit Chénier ist es sein Freund Roucher, dessen Rettungsversuche die Zeitumstände lebendig machen. Vor allem aber fasziniert der perfide Incredible, der als Spitzel, Intrigant und Mörder sein Unwesen treibt, eine Rolle, die in dieser Inszenierung eine böse Kraft bekommt, indem sie geschickt mit anderen zusammengefasst wird.
Das Aus der Guillotine
Auffällig ist, dass Roman Hovenbitzer die Guillotine als französische Erfindung abschafft. Ein Grund mag sein, dass es moderner geworden ist, zu garrottieren, das heißt, mit der Schlinge zu töten. So wird Bersi stranguliert, auch die beiden Liebenden am Schluss. Stiller ist das, auch diabolischer und doch genauso (theater)wirksam, zumal es keine neue Umgebung benötigt, wohin die Verdammten gebracht werden müssen.
Eine andere Eigenheit der Aufführung ist, wie verdeckte Fäden gesponnen werden. Als Beispiel sei der radikale Jean Paul Marat genannt. Nur seine sorgsam oder widerwillig gepflegte Büste spielt im zweiten Akt eine Rolle. Dennoch beziehen sich zwei Gemälde auf ihn, beide als Teil des Bühnenbildes und wie vom expressiven Gestus der Neuen Wilden inspiriert. Das eine zeigt den blutigen Torso einer geköpften Frau, das andere das Attentat der Charlotte Corday, die Marat in seiner Badewanne erdolchte. Diesen Mord hatte Chénier in einer kurz vor seinem Tode im Gefängnis verfassten Ode verherrlicht. So wird in der Gefängnisszene deutlich, wie weit der Dichter sich von dem Tun der blindwütigen Revolutionäre distanziert hatte. Auch eine andere Anspielung ergänzt das. Peter Weiss‘ „Marat/Sade“ scheint zitiert, sitzt doch Gérard, der im Revolutionstribunal die Anklage gegen Chénier verfasste, wie einst der an heftigem Juckreiz leidende Marat in einer Wanne. Umgestürzt wird sie im letzten Akt zum Schreibpult für Chénier.
Feuer und Blut
In der Art von Brechts epischem Theater stellt die Inszenierung jedem Akt Leitsätze voran, vor dem Vorhang gesprochen oder mit Akkordeon begleitet. Büchner wird zitiert mit „Krieg den Palästen, Friede den Hütten“, Schiller mit „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ oder Wilhelm Liebknecht (nicht Sohn Karl) mit „Es lebe die Revolution!“. Auch das ansehnliche Bühnenbild von Hermann Feuchter lebt vom Plakativen, verwendet Le Barbiers „Erklärung der Menschenrechte“ und natürlich Eugène Delacroix‘ Freiheitsallegorie. Im ersten Akt ist im Vordergrund ein riesiger Rahmen zu sehen. Wie auf einem Gemälde wird der Blick durch ihn zurück ins Ancien Régime gerichtet, in den Salon der Contessa di Coigny. Neben gleißender Pracht im Hintergrund und teurer, aber lockerer Kleidung (feinsinnig gestaltete Kostüme: Roy Spahn) ist eine Gesellschaft zu sehen, die sich hemmungslos ihren Gelüsten hingibt. Grell bildet Hovenbitzer das Amoralische der Aristokratie ab. Die Contessa lässt sich von einem Bediensteten unter ihrem Reifrock sexuell befriedigen, die „Gäste“ tragen zu ihren zerzausten Perücken leichte Ballettkleidung, die bunt geschminkten Männer sogar rosa Röckchen. Ein Abbate genießt, dass ihm der kindliche Pan-Darsteller aus der zur Belustigung aufgeführten Romanze wie eine Opfergabe auf den Schoß gelegt wird. Das ist, scharf überspitzt, der Nährboden, auf dem die revolutionären Ideen gedeihen. Im Libretto erfüllen das gleich zwei Gestalten, der Diener Carlo Gérard und der als Gast neu eingeführte André Chénier. Beide brüskieren die Anwesenden, Chenier mit einem Poem, in dem er dem Adel Mitleidlosigkeit und Prasserei vorwirft, und noch unmittelbarer Gérard, der einen Trupp abgezehrter Bauern hereinführt und gleichzeitig seine Stellung aufkündigt. Sehr sinnbildlich kippt der Rahmen am Schluss dieses ersten Aktes und wird an einer Ecke gar von Gérard in Brand gesetzt. Feuer wird fortan zu einem Leitmotiv der Inszenierung, wie auch die Farbe Rot, die Blut und Revolution symbolisiert.
Die Liebe, ein Drama
Wie es sich für das Genre gehörte, erfanden Umberto Giordano und sein Librettist eine Liebeshandlung hinzu, die Maddalena in den Fokus setzt. Im ersten Akt noch jung und lebenslustig, doch unsicher in ihren Gefühlen, lässt sie sich von Chéniers Pathos begeistern. Sie entflieht dem Einfluss ihrer Mutter, um sich mit ihrer Zofe Bersi in Paris durchzuschlagen. Fünf Jahre später begegnet sie Chénier wieder. Für Spannung sorgt, dass beide von Gérard gesucht werden. Maddalena möchte er besitzen, und Chénier will er aus Eifersucht vernichten. Die Machtmittel dazu besitzt er als Ankläger im Revolutionstribunal. Aber mit diesen Figuren tut sich die Regie schwer, weil sie keine wirklichen Charaktere sind, ihr Handeln wenig motiviert wird. Einzig Gérard entwickelt sich. Er läutert sich, erkennt Maddalenas unabdingbare Liebe und will dem Paar helfen, bekennt öffentlich das Falsche in seiner Anklage. Maddalena wird zwar zur Sich-Aufopfernden. Ihr Schicksal wird aber ebenso wenig mit der Revolution verbunden wie das Chéniers, der emphatisch sein Glück besingt, mit seiner Geliebten sterben zu dürfen.
Großer Beifall für das Musikalische
Das ergibt grandiose musikalische Momente, wenn große Stimmen die großen Gefühle meistern. Karen Leiber kann sogar noch differenzieren, spielt und singt die junge Maddalena leichter, doch ebenso farbig wie sie der reiferen Frau an Chéniers Seite Töne gibt. Zurab Zurabishvili hält seinen kraftvollen Tenor über vier Akte hin unstrapaziert auf glänzender Höhe. Yoontaek Rhim hat einen erstaunlich scharfen Bariton, mit dem er die „hohe“ Gesellschaft brüskiert, der sich wandelt, wenn er in der Badewanne erkennt, dass er bisher „ein gehorsamer Diener von brutalen Leidenschaften“ war. Unter den vielen Nebenrollen, die das Theater insgesamt beachtlich besetzen konnte, stechen Hanna Larissa Naujoks als ungewöhnlich lebendige Bersi mit einem schönen Mezzo heraus und Paul Kröger mit einem sehr veränderlichen Tenor. Er schafft in seinen vielen Rollen (als dichtender Abbate, als Dumas und vor allem als Incredible) eigenständige Charakterisierung, auch stimmlich. Der Chor hat wieder viel zu tun, zu spielen und zu singen, wobei er von Friedemann Braun, dem neuen Chordirektor in Schwerin sehr gut vorbereitet wurde.
Giordanos Musik ist sehr flexibel, sowohl in der Melodik als auch in der Instrumentierung. Die mecklenburgische Staatskapelle brachte sie unter Leitung von Michael Ellis Ingram erstaunlich differenziert zum Klingen. Kein Wunder also, dass das Publikum von dieser Inszenierung ungewöhnlich begeistert war und lang applaudierte.