In der vorletzten Ausgabe der neuen musikzeitung hieß es auf der ersten Seite, dass die Musikstadt Nummer eins Stuttgart sei. Dazu erreichte uns ein sowohl freundlich belehrender als auch betrübter Brief von der Bachakademie Stuttgart und ihres Leiters Andreas Keller, in dem die zahlreichen Musikinitiativen der Stuttgarter Institutionen aufgeführt wurden, die nicht in unserem Bericht genannt worden sind: von der Bachakademie bis zu den Stuttgarter Philharmonikern, von Kammerorchester und Kammerchor Stuttgart, von der Musikschule und der Musikhochschule unter ihrem engagierten Rektor Heinrichs, von der Kulturgemeinschaft Stuttgart mit ihren 43.000 Mitgliedern bis zu den vielen Kirchenchören.
Wir hätten das alles sicher angeführt, wenn es in dem Artikel um eine Gesamtdarstellung des ohne Zweifel imponierenden Stuttgarter Musiklebens gegangen wäre. Die insofern etwas missverständliche Überschrift wurde aber durch die folgenden Ausführungen schnell eingeengt: Es sollten nur die Einrichtungen des Stuttgarter Musiklebens „belobigt“ werden, die sich gleichsam in vorderster Front für die Weiterentwicklung der Musik und deren Sprache einsetzen. Diese Beschränkung sollte nicht die Arbeit der anderen Einrichtungen herabsetzen, vielmehr den speziellen Einsatz Stuttgarter Musikinstitute für die Avantgarde herausheben.
Das Risiko, das dieser Einsatz für die Veranstalter bedeutet, wird von der neuen musikzeitung bei der Wahl ihrer Themen immer mitbedacht. Die nmz-Redaktion sieht bei der Beobachtung des aktuellen Musikgeschehens ihre wichtigste Aufgabe darin, die neuen Werke sowohl gestandener als auch junger bis jüngster Gegenwartskomponisten vorzustellen.
Nachdem wir, wie wir hoffen, das kleine Missverständnis erklärt haben, können wir mit der Musikstadt Nummer eins unmittelbar fortfahren, soweit es sich um die Präsentation neuer Werke handelt. Gerade hatte im Forum Neues Musiktheater Stefano Scodanibbios „Il cielo sulla terra“, ein Musiktheater für 2 Tänzer, 15 Kinder, 10 Instrumentalisten, Video und Elektronik Premiere – wir werden darüber in der nächsten Ausgabe berichten. In der Staatsoper erlebte man die Uraufführung von Gérard Pessons „Pastorale“ auf ein Libretto nach Motiven des Barockromans „L‘Astrée“ von Honoré d‘Urfe (1627), die bedauerlicherweise wegen eines Streiks nur konzertant erfolgen konnte (siehe Leitartikel auf Seite 1 dieser Ausgabe).
Gespannt war man besonders auf ein Konzert des Staatsorchesters Stuttgart, das der Komponist Beat Furrer dirigieren sollte. Mit einem intelligent und beziehungsreich „komponierten“ Programm, das Furrers Komponieren in dramaturgische Zusammenhänge stellte.
Zwischen Weberns „Sechs Stücken für Orchester op. 6“, Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“ und Varèses „Amérique“ erklang als Uraufführung Furrers Orchesterstück „Phaos“ sowie die „canti notturni“ für zwei Soprane und Kammerorchester. Da der Komponist kurzfristig erkrankte, übernahm Stuttgarts Generalmusikdirektor Lothar Zagrosek das Programm ohne Änderungen – wie beneidenswert für eine Stadt, einen so kompetenten und souveränen Dirigenten zu besitzen.
Furrers „Phaos“, das griechische Wort für Helligkeit/Licht, darf man als eine Art nachträglich geschriebene Vorstudie zu Furrers Hör-Theater „Fama“ bezeichnen. „Fama“, eine Göttin in der Mythologie, sammelt in ihrem inmitten der Weltensphären gelegenen Haus alle Klänge und Geräusche, die zu ihr dringen. Furrers „Phaos“ reflektiert seine „Fama“-Komposition in einem dichten Klanggeflecht, in dem wellenartiges Fließen, harte Schnitte, schwebende Klänge und eine subtile Organisation von Obertönen zu einer faszinierenden Geschlossenheit führen. Musik, die wie von weither zu uns klingt und deshalb ganz nah wirkt.