Weltläufig gibt sich das Theater Lübeck mit seinen neun Opernproduktionen in der neuen Saison. Nur einmal liegt das Ziel in Europa, in Venedig natürlich. Meist will man in die Ferne, nach Afrika oder Asien, dreimal sogar auf den südamerikanischen Kontinent. Den Anfang machte (Premiere: 25. August 2019) dort Argentinien, wo Astor Piazzollas „María de Buenos Aires“ zuhause ist. Ihr musikalisches Idiom ist durch den Tango geprägt, weshalb Piazzolla selbst sein Werk eine „Tango-Operita“ nannte. Idee und Libretto dafür lieferte ihm der im benachbarten Uruguay geborene Lyriker Horacio Ferrer. Arndt Voß berichtet.
1968 war die Uraufführung in Buenos Aires, wo Piazzollas einzige Oper großen Erfolg hatte. Erst 1999 wurde sie nach einer Inszenierung in Kiel auch in Deutschland bekannt, so dass man ihr jetzt hierzulande ab und zu begegnet, so im Frühjahr gar dreimal, in Halle, Dresden und Bremerhaven. Dennoch ist vielen unbekannt, dass Piazzolla auch dieses Genre bediente. Das steht im Kontrast zur Beliebtheit des Argentiniers, ohne den bei Zugaben kaum eine Veranstaltung auskommt. Die Gründe für die Zurückhaltung der Oper gegenüber liegen vor allem im Sujet und in der Sprache.
Das Sujet bringt die Titelfigur Maria in eine Reihe von merkwürdigen Situationen, die zu verfolgen schwer ist. Zwar ist eine Art biografischer Bogen vorhanden, der aber durch Erweckung und Tod und Wiedergeburt und Geisterexistenz eine mystische Achterbahn fährt. Maria ist anfangs ein Kind im Armenviertel, wächst auf, entdeckt die Musik in Form des Tangos, widmet sich dem ganz, wird gefeiert und stürzt durch Machenschaften in den Großstadtsumpf. Ihr früher Tod ist jedoch nicht das Ende. Ihr Schatten lebt fort und wird zur angebeteten Hoffnungsfigur. Einen Jungen soll sie gebären, den Erlöser, doch es wird eine neue Maria.
Ein Deutungsansatz
Wir sind gewohnt zu deuten, klar und eindeutig. In Südamerika ist das dem Vernehmen nach anders. Dort lässt selbst der Katholizismus derlei Vorstellungen zu, in die Spiritualität aus vielerlei Quellen hineinspielt. Dennoch steht das Christliche im Vordergrund, bei dem das Herz ein starkes Symbol ist. Als mannshohe Nachbildung steht es auf Lübecks Bühne. Zunächst noch verborgen, wird es dann zum Fixpunkt. Später durchbohren es Speere, wird es immer weiter nach vorn geschoben. Es ist das Zentralgebilde in Vibeke Andersens variablem Bühnenbild, die einen ringförmigen Steg auf die Drehbühne stellte, der sich nach hinten erhöht. Er besteht aus mehreren Einzelelementen, die ab- oder herausgelöst werden können und immer wieder neue Szenerien schaffen, zu Varieté, Kirche oder Puff werden. Ein zweites Signum, für den christlichen Glauben von großer Bedeutung, ist das Kreuz. Eines wird auf der Bühne schlicht und schmucklos gezimmert, verwandelt das Bühnenkonstrukt in ein Sakralgebäude.
In der Inszenierung des Österreichers Rainer Vierlinger spielen Herz und Kruzifix zwar eine zentrale Rolle, fixieren die Spiritualität, die Horacio Ferrers Lyrikerzählung zusammenhält, aber die 16 Stationen lassen sich nur schwer deuten. Ein Zugang könnte sein, in dem Geschehen ein symbolisches Nachzeichnen der Tangogeschichte zu sehen. In den Armenvierteln geboren, steigt er auf, wird zum Volksgut. In Marias Absturz in die Gosse könnte das Verkommen des Tangos zur verruchten, von der bürgerlichen Gesellschaft abgewerteten Musik in Kaschemmen und Puffs versinnbildlicht sein. Für eine Zeitlang war er selbst Piazzolla verpönt, bis er ihn, mit neuem Geist und musikalischem Anspruch füllte und ihn als Tango Nuevo auferstehen ließ.
Erschwernisse
Der symbolistischen Sprache Horacio Ferrers, die das Lübecker Team zu übersetzen sich scheute, kann wohl niemand folgen, auch der nicht, der das Spanische perfekt beherrscht. Deshalb mag es gleichgültig sein, wenn auf der Übertitelungsanlage in Lübeck nur in wenigen Momenten Worthülsen zu sehen sind oder Jahresangaben. Alles gibt dem Geschehen den Hauch von Surrealem, zumal das Spiel auf der Bühne vielfach gebrochen ist. Ein Sprechchor hilft dabei, auch eine Reihe von Statisten als Frauen, Kinder, Handwerker, Huren, vor allem aber ein Paar, das durch schön anzusehenden, zugleich expressiven Tangotanz eine weitere Bezugsebene öffnet (Katherine Gorsuch und Andrés Sautel).
Probleme bietet das Libretto vor allem durch den wortlastigen Text des Erzählers, den der versierte Daniel Bonilla-Torres sprach. Über die Dauer von 90 Minuten sollte er nach Willen der Dramaturgie den Opernbesucher allein durch den Klang seiner Stimme bannen. Das ist nicht zu schaffen, zumal kein Programmheft Hilfe bot. Leichter hatten es die beiden Sänger, bei denen nur das erschwerend war, dass sie häufig ihre Existenzform wechseln mussten. Maria wird zur Hauptsache von Lorena Paz Nietro verkörpert. Die junge Spanierin hat eine sehr farbige Stimme, die Piazzollas Vorbilder von Jazz bis Folklore wunderbar einfing. Ihr glaubte man die breite Ausdruckswelt des Tangos. Ein Manko des Librettos ist, dass ihr „Yo soy Maria“, mit dem sie sich vorstellt, viel zu früh im Gefüge verankert ist. Vor allem mit diesem Song setzte die Sängerin einen musikalischen Glanzpunkt. Auch ihr männlicher Partner Carlos Moreno Pelizari bewies in unzähligen Varianten seine Vielseitigkeit. Stets war er um Maria herum, förderte oder verdarb sie, meisterte sehr Konträres überzeugend.
Piazzollas Oper ist ein Werk voller Kraft, die durch seine ungemein variable und situationsbezogene Musik erzeugt wird. Sie nachzugestalten gelang den Musikern aus dem Lübecker Philharmonischen Orchester respektabel. Sie wurden von Takahiro Nagasaki, neu in Lübeck als 2. Kapellmeister, temperamentvoll vom Piano aus geleitet. Den Musikern hätte eigentlich ein Platz auf der Bühne gebührt, so stark wie die Musik mit der Handlung verbunden ist. Die Regie entschied sich anders. So durften nur Bandoneon (eindrucksvoll Christian Gerber) und Gitarre (sehr einfühlsam Volker Linde) an wenigen Stellen mit dem Geschehen auf der Bühne Zwiesprache halten.