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Zeitzeuge, politischer Kommentator, vor allem aber Komponist: Rolf Riehm. Foto: Charlotte Oswald
Zeitzeuge, politischer Kommentator, vor allem aber Komponist: Rolf Riehm. Foto: Charlotte Oswald
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Tief im Unbewussten der Gesellschaft forschend

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Odysseus und die assoziativen Räume: der Komponist Rolf Riehm wird siebzig Jahre alt
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Wohin gehört eigentlich Rolf Riehm stilistisch? Muss man das überhaupt fragen? Wohl nicht. Doch unser systematisierungshungriger und lagerversessener Geist drängt darauf. Die Schubladen stehen weit offen: postmodern oder komplex, minimal oder reduziert, neotonal, elektronisch oder zweitmodern. Riehm passt in keine. Heimatlos oder heimatfern wie Odysseus, dessen Mythos ihn immer wieder faszinierte? Er lässt sich nicht einordnen (unterordnen?), aber er lässt uns hören: und zwar was alle angeht. Das ist wohl der bessere Weg.

Zunächst mal kursorisch: Rolf Riehm wurde am 15. Juni 1937 in Saarbrücken geboren. Er studierte zunächst Schulmusik in Frankfurt/M. und ab 1958 Komposition bei Wolfgang Fortner in Freiburg. Danach Tätigkeit als Solo-Oboist (unter anderem mit „Ungebräuchliches“ bei den Internationalen Ferienkursen Darmstadt 1966). Riehm ist Mitbegründer der Frankfurter Vereinigung für Musik, die von 1964 bis 1970 existierte.

Nach kurzem Schuldienst war er ab 1968 Dozent an der Rheinischen Musikschule Köln, wo er bis 1972 auch Mitglied der „Gruppe 8“, einem Zusammenschluss Kölner Komponisten, war. 1968 erhielt er die Auszeichnung „Premio Marzotto per la Musica“ und ein Stipendium der Villa Massimo, das ihm einen Aufenthalt in Rom ermöglichte. Von 1974 bis 2000 war Rolf Riehm Professor für Komposition und Tonsatz an der Musikhochschule Frankfurt/M. Von 1976 bis 1981 Mitglied des legendären „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ Frankfurt. Konzertreisen, Vorträge und Workshops führten ihn unter anderem nach Schweden, Mittel- beziehungsweise Südamerika und Japan. 1992 erhielt er den Kunstpreis des Saarlandes, 2002 den Hindemith-Preis der Stadt Hanau.

Nichts ist abstrakt bei Riehm, zumindest nicht auf erster Ebene (die kompositorischen Verfahren im Hintergrund freilich tauchen tief in strukturelle Abwägungen). Gegenstand seiner Musik ist die Gegenwart, die freilich nicht ohne geschichtlichen Vorbau gesehen werden kann: ihre Komplexe, ihre Narben, ihre Spielregeln, ihre politischen und gesellschaftlichen Konnotationen.

Es geht um sichtbare und unsichtbare Gewalt, um die Abnutzungserscheinungen der Sinne, auch um das gebrochene Liebesversprechen der französischen Revolution (im Gesangs-Orchesterstück „Les Chants de la Révolution sont des Chants de l’Amour“). Riehms Musik ist politisch im besten Sinne: nicht plakativ, nicht vordergründig, nicht ereignisbezogen, sondern vielmehr tief im Unbewussten der Gesellschaft forschend. Aus der gleichen Gesellschaft nimmt er sich auch seine Materialien, auf den ersten Blick möchte es erscheinen fast ungeprüft. Denn da ist der Kitsch des Schlagers, da sind billige Samplings, da wehen vernutzte Klänge aus dem klassischen Repertoire hinein und alles wird immer wieder von konkreten Geräuschen konterkariert.

Was sich beim Hören auftut ist ein dialektisch gebrochener, assoziativer Raum (spätestens hier erweist sich, wie genau bedacht die Materialen zusammengesucht wurden). Schon die sprechenden Titel Riehms geben das assoziative Feld vor: in der Oper nach Kafka „Das Schweigen der Sirenen“, in Orchesterkompositionen wie „O Daddy“, „Schubert Teilelager“, „Die Tränen des Gletschers“ oder „Die schrecklich-gewaltigen Kinder“, in Kammer- oder Solowerken wie „’Ich denk viel.’/Mr. President/pizz/13“, „KlageTrauerSehnsucht“, „Hawking“ oder „Notturno für die trauerlos Sterbenden“, schließlich im die Zonen von Angst und Gewalt durchleuchtenden Märchen-Hörstück „Machandelboom“. Was vor allem freut, ist die Wachheit, mit der Riehm in einer immer mehr betäubten oder sich der Betäubung überlassenden Welt die Dinge sieht. Seine Werke sind wie Zooms auf die Wunden unserer Zeit. „O Daddy“ zum Beispiel geht direkt auf eine in Italien geführte Debatte über die Familienstruktur ein (1977 hatte in Rom der 15jährige Marco Caruso seinen Vater erschossen, um die Familie von diesem als Tyrann empfundenen Vormund zu befreien). Dann aber weiten sie den Blick und suchen das Gesamte. Die Stücke sind Zeitzeuge und zugleich politischer Kommentar. Und sie zehren auch immer von der Rätselhaftigkeit unseres Daseins (die Oper „Das Schweigen der Sirenen“ breitet, wie schon Kafkas Text, ein Gewirr von Deutungen und Lösungen aus, ohne sich letztlich festzulegen). Solche gesellschaftliche Brisanz und Unversöhnlichkeit zeichnet die Werke von Rolf Riehm aus. Doch sie sind freilich mehr: nämlich Musik, die das Hören von Anfang bis Schluss in den Bann schlägt.

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