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Foto: Andreas Etter
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Transkulturell bis zum Wellensalat: „Orientation-Festival“ am Staatstheater Mainz

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Drei Jahre schon existiert am Staatstheater Mainz Anselm Dalferths experimentelle Reihe „Hörtheater“, die das Hören selbst und sein Verhältnis zum Sehen immer wieder auf den Prüfstand stellt. Auf zwei Jahre angelegt war die von der Bundeskulturstiftung „Doppelpass“ geförderte Zusammenarbeit des Staatstheaters mit dem Mannheimer Oriental-Jazz-Ensemble LebiDerya. Die über zwei Spielzeiten wachsende Berührung beider Konzepte mündete nun in das „transkulturelle Orientation-Festival“ des Staatstheaters.

Der englische Begriff „Orientation“ bedeutet nicht viel anderes als das Fremdwort „Orientierung“ im Deutschen. Vielleicht ist der geographische Unterton stärker: Von „Orientation“ spricht man auch, wenn eine christliche Kirche in alter Tradition nach Osten ausgerichtet ist. Das Mainzer Staatstheater blickt nun bewusst in den Nahen Osten, aber es geht nicht um Architektur und kaum um Religion, sondern vor allem um die klingende Musik der Levante. Dazu hat man Musiker aus dem Libanon und dem syrischen Exil eingeladen, und Regisseur und Dramaturg Anselm Dalferth und Operndramaturgin Ina Karr haben im Oktober 2016 sogar zusammen mit Johannes Stange und Joss Turnbull vom Ensemble LebiDerya eine musikalische Studienreise in den Libanon unternommen. Ziel der Mainzer Reihe ist aber weniger die Präsentation und Bewahrung nahöstlicher Musikkultur als die Begegnung zwischen unterschiedlichen Musikkulturen. „Tamáss“ hieß einer der Hörtheater-Abende, „Tamáss“ heißt nun auch die abschließende szenische Produktion im Großen Haus. Der arabisch-persische Begriff steht für „Kontakt, Berührung“ aber auch für „Grenze, Konfrontation“, oszilliert also zwischen Öffnung und Abgrenzung.

In den vergangenen Spielzeiten hat nun die „Hörtheater“-Reihe sukzessive ein Begegnungsfeld zwischen vier musikalische Polen etabliert: Jazz und orientalische Musik, europäische Klassik und experimentelle Musik / instrumentales Theater (in der Tradition von John Cage und Mauricio Kagel). Zum Festival begegnet man diesen Elementen im einleitenden Wandelkonzert wieder. Oben im „Glashaus“ spielt und singt der syrische Gitarrist Abdalhadi Deep zur Oud zwei orientalische Kompositionen in tradionellem Stil. Auf der Dachterrasse traktiert der libanesische Gitarrist Sherif Sehnaoui sein Instrument virtuos auf experimentelle Weise und entlockt ihm, während nebenan die Glocken des Mainzer Doms erklingen, mit Hilfe zweier Metallstäbe unerwartete glockenartige und perkussive Töne. Weiter führt der Weg in die Theaterkantine, wo Staatstheater-Sopranistin Alexandra Samouilidou Leonard Bernsteins witzigen Liedzyklus „La bonne cuisine“ zum Besten gibt. Im Orchestersaal interpretiert eine Kammerbesetzung des Philharmonischen Staatsorchesters vier Sätze aus Georg Philipp Telemanns Suite „Hamburger Ebb und Flut“; in die abschließende Gavotte blendet sich wie von ferne Johannes Stange mit der Jazz-Trompete ein. Und auf dem Tritonplatz schließlich behandelt Joss Turnbull gekonnt die persische Trommel Tombak und vervielfacht die Klangeffekte mit einer Loop-Station.

Erläuterungen, Erklärungen oder Liedtexte gibt es freilich nicht. Auch die Tanzperformance „Fatmeh“ des jungen libanesischen Choreografen Ali Chahrour über die Klagegesänge der Prophetentochter Fatima bleibt dem Uneingeweihten eine oberflächliche Angelegenheit. Während sich die Tänzerinnen Yumna Marwan und Rania Al Rafei auf der Bühne verausgaben, reduziert sich die ungeschulte Wahrnehmung allzu schnell auf das Klischee orientalischer Klageweiber. Beim Nachtkonzert im Glashaus mit dem renommierten syrischen Sänger und Entertainer Abdel Karim Shaar, dem Qanun-Spieler Ghassan Sahhab und dem Percussionsten Turnbull gibt es zwar immerhin einige mit einigen arabischen Fachbegriffen durchsetzte Erklärungen in englischer Sprache; ein ordentliches Programmheft ersetzen sie aber nicht. Dass in der Musik komponierte und improvisierte Phasen ineinander übergehen, vermittelt sich schnell. Man bewundert Shaars Bühnenpräsenz ebenso wie seine nuancierte Stimmgebung und ist fasziniert von der Fingerfertigkeit und dem Klangsinn seiner instrumentalen Begleiter. Aber worum geht es in den Liedern? Wo liegen musikalische Feinheiten? Einige Zuhörer aus dem arabischen Kulturkreis haben das Problem nicht. Sie summen die Melodien, klatschen im Rhythmus, singen oder tanzen sogar mit. Auch das deutsche Publikum klatscht schließlich im Vierertakt auf Eins und Drei mit, aber das erfordert nicht mehr Musikgespür als beim Radetzkymarsch im Neujahrskonzert.

Kultur und Wahrnehmung

Dass unser Begriff von Kultur auch die Wahrnehmung prägt, kommt am zweiten Festival Nachmittag zur Sprache. Im Titel der Vortrags-Veranstaltung „Transkultur – Impulse und Performances“ schlägt die Orientierung am Konzept des Transkulturalismus durch. Am Abend wird man im Programmheft zur großen „Tamáss“-Produktion auch einen entsprechenden Aufsatz des Philosophen Wolfgang Welsch finden. Deutlich akzentuiert wird hier und in den Vorträgen immer wieder die Ablehnung des alten Herderschen Kulturbegriffs, der von nationaler Homogenität und strikter Abgrenzung nach außen geprägt ist. Dieser ist in der Tat ein Kind des 19. Jahrhunderts, hat die zahlreichen interkulturellen Begegnungen zwischen Kulturen, die in der Menschheitsgeschichte seit jeher stattgefunden haben, im europäischen Bewusstsein lange verdeckt und leider auch die verschiedensten Nationalismen befeuert.

Heutige Kulturen, sagt Welsch nun, seien transkulturelle Mischungen, und heutige Menschen seien auch „in sich“ transkulturell, was sie befähige, mit äußerer Transkulturalität zurechtzukommen. Interkulturelle Kommunikation sei zum Scheitern verurteilt, denn sie resultiere bloß im Missverstehen des anderen nach dem eigenen Muster. Und er entwirft – in einem weiteren Aufsatz aus dem Jahr 2013 – ein neues Bild vom Menschen: Nicht mehr „als selbstständiges, autonomes, für sich seiendes Wesen“, sondern „als ein vielfältiges Flackern und Flimmern – und manchmal wohl auch Leuchten – im Prozess der Welt.“ Als Leitbild dient dem Berliner Philosophen ausgerechnet eine Bühnenfigur Henrik Ibsens: Peer Gynt, der im Laufe seines Lebens immer neue Identitäten annimmt. Welsch verschweigt, dass Peer bis zum Ende sich selbst nicht begreift, dabei aber stets ein höchst ausbeuterisches Verhältnis zu seinen Mitmenschen kultiviert. Auf diesem Niveau ist ein Bemühen um Verstehen und Anverwandeln des Anderen in der Tat nicht mehr nötig. Es reicht, wenn ich genieße und nach Gebrauch wegwerfe, bevor ich mich Neuem zuwende. Wer im Publikum etwas verstehen oder erklärt haben will, ist entsprechend von gestern oder vorgestern, einfach noch nicht genügend transkulturell…. 

Auch Welschs wesentlich sympathischeres Bild von Standbein und Spielbein überzeugt nicht wirklich. Mag man auch im Stehen spielerisch verschiedene kulturelle Positionen einnehmen können - beim Gehen müssen beide Beine tragen. Kultur ist nicht nur klingende oder blinkende Außenseite, sondern ein symbolischer Bezug zur Welt, ein Bedeutungsgewebe aus Erfahrungen und Gefühlen, Traumata und Träumen, in dem sich Menschen bewegen. „Sogar im Praktischen lebt der Mensch nicht in einer Welt harter Tatsachen oder nach seinen unmittelbaren Bedürfnissen und Wünschen“, formulierte der Philosoph Ernst Cassirer 1944 als deutsch-jüdischer Exilant in den USA, „er lebt vielmehr inmitten eingebildeter Affekte, in Hoffnungen und Ängsten, in Illusionen und Desillusionen, in seinen Phantasien und Träumen.“ Der Transkulturalismus als Ideologie will davon nichts wissen, die Mainzer Dramaturgie aber eigentlich schon. Hätten Dalferth und Karr sonst ihre Libanon-Reise unternommen?

Multi-, Inter- und Transkulturalismus

Glücklicherweise sind Dalferths Mainzer Musiktheater-Produktionen auf undoktrinäre und unverkrampfte Weise transkulturell. „Zweieinander“ für Drei- bis Fünfjährige, an dieser Stelle bereits besprochen, inszeniert kindgemäß spannend die Begegnung von Menschen und Kulturen in der Gegenüberstellung von Trompete und Tombak. Die Kinderoper „Hamed und Sherifa“ des libanesischen Komponisten Zad Moultaka, zu der Dalferth zusammen mit Ina Karr nach einem Schauspiel von Andrea Gronemeyer auch das Libretto geschrieben hat, verbindet in Besetzung und kompositorischer Machart europäische und orientalische Einflüsse. Inhaltlich thematisiert sie in deutscher Sprache vor einem orientalischen Szenario auf witzige, geistreiche und unterhaltsame Weise die kulturübergreifende Problematik von Geschlechteridentität und Machtmissbrauch: König Hamed, von seiner Frau betrogen, verbannt per Todesstrafe alle Frauen aus seinem Reich – mit Ausnahme seiner Mutter; erst die als Mann verkleidete Prinzessin Sherifa belehrt ihn nach längerem Aufenthalt an seinem Hof eines Besseren. Sämtliche Haupt- und Nebenrollen werden von drei Männern gesungen und gespielt; Alin Deleanu gibt als Altus den König, Johannes Mayer als Tenor seine Mutter, und der spielfreudige Bariton Brett Carter die verkleidete Prinzessin Sherifa. Das begleitende Instrumentalensemble besteht ebenfalls nur aus Männern, die nebenbei Hofstaat und männliche (Rest-) Bevölkerung verkörpern. Sherifa selbst meistert drei raffiniert ausgedachte Männlichkeitsproben; die vierte nutzt sie zu Flucht und Selbstenttarnung. Am Ende steht ein bekehrter Monarch. „Gerecht ist es, nicht alle für einen zu bestrafen,“ erkennt er und erklärt: „Vorurteile sind verbannt aus König Hamed und Sherifas Land“.

„Tamáss“

Die Abschlussproduktion „Tamáss“ führt das Publikum auf die Bühne des Großen Hauses. Der feierlich erleuchtete Zuschauerraum gehört den 16 Solisten. Fünf Instrumentalisten des Philharmonischen Staatsorchesters, vier Mitglieder des Opernensembles, drei orientalische Gäste, zwei Mitglieder von LebiDerya, der E-Gitarrist Nicola Hein sowie Giulia Loli vom Elektronikstudio „Mutamassik“ haben sich an verschiedenen Stellen zwischen Parkett und 2. Rang postiert. Zwischen den Sitzreihen sind einzelne Situationen angedeutet: Hier ein Büro, dort eine Parkbank, da ein Wohnzimmer, da ein Musikstudio; auch in Bildschirmen spiegeln sich die Mitwirkenden. Was jetzt passiert, erinnert in der szenischen Konzeption und im klanglichen Ergebnis am John Cages „Musicircus“ oder „Europeras“, setzt aber an die Stelle des gelenkten Zufallsarrangements die freie Entscheidung der Mitwirkenden im Rahmen des Regiekonzepts. Alle Mitspieler haben sich ein oder zwei Stücke ausgesucht, die sie auszugsweise interpretieren; das musikalische Spektrum bewegt sich dabei wieder zwischen den vier Polen von europäischer oder orientalischer Musiktradition, Jazz und experimenteller Musik. Sie verharren am Platz oder bewegen sich individuell auf den Raum, schweigen oder beginnen zu singen und zu spielen. Dabei überlagern sich die Klänge, und es kommt zu Begegnungen unterschiedlichster Art: Man geht am andern vorbei, man geht vorsichtig auf ihn ein, man ignoriert ihn demonstrativ oder sucht ihn akustisch zu verdrängen.

Für die zweite Phase (oder den zweiten „Akt“) des Stückes wird der Eiserne Vorhang geschlossen, und die Spieler finden sich auf einem Podium vor der Zuschauerbühne in musikkulturell gemischten Paaren zusammen. Auch hier entstehen unterschiedliche Qualitäten der Begegnung – von der lustlosen Pflichtübung über das von höflichen Gesten eingerahmte Nichtverstehen bis hin zur unvermutet entstehenden gegenseitigen Resonanz, die in gesteigerte musikalische Intensität mündet. Es gibt offensichtlich so etwas wie spontane Transkulturalität, aber die Regel ist sie nicht. Für den 3. Akt geht Dalferths szenische Versuchsanordnung in den nun stärker abgedunkelten Zuschauerraum zurück. Wieder sind die Interpreten im Raum verteilt, doch finden sie sich im Lauf der Zeit für eine Weile zu homogenen Gruppen zusammen. Trompete und Posaune finden sich zum Jazz-Duett. Oud, Qanun, arabischer Gesang und arabische Trommeln vereinen sich im gemeinsamen Lied, die Opernsänger zum Mozart-Quartett aus „Ideomeneo“ und modernen Ensemble-Nummern, die Streicher zum Schubert-Quartett „Der Tod und das Mädchen“ – allesamt musikalische „Heimaten“, in deren Mikrokosmos die musikalische Koordination sich schnell und selbstverständlich einstellt und die Bedeutung selbstverständlich mitschwingt.

Das Finale, wieder vor dem Eisernen Vorhang, präsentiert schließlich die Individuen als selbstständige und autonome Wesen. Alle Mitwirkenden stellen sich und ihr Instrument kurz vor und spielen oder singen ein Stück ihrer Wahl – dem Anschein nach spontan und oft mit einem witzigen Akzent. Der Tenor Ziad Nehme etwa imitiert im Falsett Mozarts „Königin der Nacht“, an der sich seine Opern-Faszination entzündete, Stephan Kirsch präsentiert als frustrierter Mittvierziger einen Satz aus seiner Komposition „Schöner scheitern“ für Posaune solo, Geneviève King singt nach ungeplant überlanger Zugfahrt Poulencs Chanson „Je ne veux pas travailler“. Der Bratschist Malte Schaefer und die Sängerin Maren Schwier geben dem Publikum jeweils ein Abendlied auf den Weg, Abdel Karim Shaar eine alte Sufi-Melodie, und der Trompeter Stange wählt eine Variante von Cages Schweigestück „4‘33““. Das letzte „Wort“ aber hat Mutamassik: Aus einem Lautsprecher erklingen Giulia Lolis Live-Aufnahmen dieses Abends, durchmischt mit Scratching-Geräuschen ihres DJ-Turntables. Das klingt in etwa wie früher der berüchtigte Wellensalat auf der Radio-Mittelwelle – Geräusche und Klänge verschiedenster Stationen, die sich nicht mehr zu- und einordnen lassen. Es ist eine eindrucksvolle Abrundung für einen Abend, der das ganze existierende Panoptikum abbildet: Zwischen Individuum, Gemeinschaft und Weltgesellschaft, zwischen Multi-, Inter- und Transkulturalismus, zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, zwischen Öffnung und Abgrenzung.

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