Neben Neuproduktionen reihen sich in dieser Spielzeit Produktionen von Mozarts aufregender Opera seria „Idomeneo, Re di Creta“ (München 1781) zum Beispiel in Nancy, Liège, Genf. Die Kölner Neuinszenierung von Floris Visser setzt szenische Exaltationen in ein mediterranes Krisengebiet zwischen Orient und Okzident, gegen welche das Gürzenich-Orchester unter Rubén Dubrovsky mit Perfektion und ästhetischer Kühle anspielt. Aus dem Ensemble mit vier Partiendebüts ragt Sebastian Kohlhepp heraus – neben Anna Lucia Richter (Idamante), Ana Maria Labin (Elettra) und Kathrin Zukowski (Ilia). Anicio Zorzi Giustiniani ist ein starker Arbace. Freundlicher bis enthusiastischer Applaus nach der Premiere.
Trauma, Tod, Gedächtnisfallen: Mozarts „Idomeneo“ im Kölner Staatenhaus
Floris Visser zeichnet in seiner „Idomeneo“-Inszenierung im Saal 2 des Kölner Staatenhauses das lebhafte, teils eindrucksvolle und teils überzogene Panorama einer Gesellschaft im Krieg und nach dem Krieg. Der Gesamteindruck schwankt zwischen genauer Beobachtung, manchmal sogar vorsätzlich überzeichneten Betroffenheitsgesten und Plattitüden aus gut gemeinter moralischer Warnung. Trotzdem gelingt ein über längere Strecken eindrucksvoller Abend. Dabei konnten sich Visser und der beim Kölner „Giulio Cesare“ gefeierte Dirigent Rubén Dubrowsky, der sich Mozarts Münchener Geniestreich aus dem Jahr 1781 stilistisch souverän näherte, auf keine gemeinsame Gangart verständigen. Szenische Explosion und musikalische Wohltemperierung liefen nebeneinander her.
Die Handlung erlebt man als Erinnerungsrückblende des kretischen Königs Idomeneo. Zur Ouvertüre steckt er in einer Krankenzelle und kritzelt den Meeresgott Poseidon mit Dreizack auf die Kacheln – ein Strichmännchen neben das andere. Idomeneo erleidet einen schweren Anfall und zwei Wärter verpassen ihm eine Spritze. Ab da schnurrt die Bühnenhandlung. Und immer wieder schleppt sich das greise Idomeneo-Double (Peter Bermes) durch von den Kriegsauswirkungen vor allem psychisch geschädigte Massen. Einen Teil der auf ein Viertel ihrer Länge gekürzten Ballettmusik am Ende nutzt Visser dreieinhalb Stunden später, indem er Idomeneos mentales Verlöschen in der Zelle zeigt. Ende also doch noch gut!
Idomeneo rast, taumelt, schwankt mit Kopfbinde durch die durch von zahlreichen Statistenauftritte aufgeputschten Detailepisoden. Menschen wehren sich kratzbürstig gegeneinander, junge Väter werden vom Strandbad zum Kriegsdienst eingezogen. Möglicherweise bildet sich Idomeneo das dem Meeresgott Poseidon ausgesprochene Gelübde des Menschenopfers, das ausgerechnet sein Sohn Idamante sein soll, nur ein. Die von Visser „Trauma“ genannte Schattenfigur in Schwarz (Daniel Calladine) wirkt wie ein Henker.
In ihrer zweiten Arie weiß Prinzessin Ilia offenbar nicht, ob sie mit dem Dolch auf Idomeneo oder auf sich selbst zielen soll. Was die Figuren in Giambattista Varescos Libretto an Paradoxien artikulieren, nutzt Visser zu bizarren Verhaltensweisen, bei denen er die Chorsolist:innen einbezieht. Kriegsopfer aus dem Nahen Osten erfahren Gnade. Während Ilia und Idomeneo mit psychischen Störungen in Andeutungen aneinandergeraten, verhalten sich Idamante und Elettra weitaus moderater.
Idamantes wichtigster Impuls ist, der ihm äußerst ladylike nachstellenden Elettra zu entgehen. Gideon Davey meint bei seinen Kostümen, dass adrettes frauliches Servicepersonal gerade in Kriegszeiten den Glauben an Normalität aufrechterhält. Der vorzüglich singende Chor – einstudiert von Rustam Samedov – ist eine wichtige Säule des Abends.
In einem für diese komplexe Partie sehr frühen Entwicklungsstadium riskiert Sebastian Kohlhepp den Idomeneo. Die Koloraturfolgen in „Fuor del mar“ singt er mühelos und findet in der Kavatine am Ende der langen Opferszene nicht zu der in der Komposition geforderten Ausdrucksdichte. Ana Maria Labin gestaltet Elettra wie eine im Luxusinternat vom Ernst des Lebens abgeschirmte Luxusbraut mit Zielort Ehehafen. Dass dieses Harmoniebedürfnis Maske sein könnte, hört man nicht. Kathrin Zukowski gibt eine lyrisch mustergültige Ilia, von deren Aufruhrmomenten kaum etwas in die seraphische Stimmführung dringt. Anna Lucia Richters Idamante zeigt sanft wärmende Timbre-Farbspiele und ist mit diesen ein idealer Bräutigam für Ilia, der am Ende mit dem Nachwuchs mit dem entschlossenen Vorsatz zum Vergessen über die Kriegsgräber tollt. Anicio Zorzi Giustiniani darf beide Arbace-Arien singen und wertet so die Figur auch qualitativ zur weiteren Hauptpartie auf.
Weder die Sturm-und-Drang-Mode der Entstehungszeit noch der im Umfeld der „Idomeneo“-Uraufführung in der europäischen Kultur gefeierte Emotionsüberschwang wird in der schwierigen Akustik des Saal 2 zu jenem Ausnahmeereignis, das „Idomeneo“ sein sollte. Aus der Inszenierung droht in Köln ein Empathieverlust durch einen Bilderorkan von traumatisierten Tätern und in Bewältigungsneurosen getriebenen Opfern. Vissers Inszenierung zeigt gewiss methodische Zielstrebigkeit. Die gekonnte und alle Abgründe vermeidende musikalische Gestaltung passt indes bestens zu den mediterranen Sandsteinfelsen im Bühnenbild Frank Philipp Schlößmanns. Trotz reichlicher Aktualisierungsschübe bleibt die gefühlte Temperatur dieses Premierenabends also etwas zu kühl und deshalb zu wenig nachhaltig.
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