So unverständlich, wie Dramaturgin Yvonne Gebauer es dem Premierenpublikum signalisierte, ist die auf dem Theaterstück „Juliette ou la Clé des songes“ von Georges Neveux basierende Handlung nun wirklich nicht. Bei ihrer Einführung erlebte das Publikum statt einer Schilderung theatraler Verwirr-Dramaturgie eine schillertheatral verwirrte Dramaturgin, die auf Hinweise zur Musik verzichtete, aber die gezielte Verunsicherung des informationswilligen Publikums durch über einhundert „Äh“s und „Ähm“s garnierte.
In einer französischen Kleinstadt sucht der Pariser Buchhändler Michel nach der ihm dort einmal begegneten Juliette. Aber alle Bewohner scheinen über kein Gedächtnis zu verfügen. Die Liebe zu Juliette, der Michel dann im Wald begegnet, evoziert in ihm traumhaft schöne Musik. Dann aber stirbt sie durch den Schuss eines Wildhüters. Im Traumbüro sucht Michel erneut nach ihr, aber alle Frauen heißen dort Juliette. Ihre Stimme hört er jedoch hinter einer Tür. Und dann beginnt seine eigene Geschichte von vorne.
Die skurrile, der Traumlogik folgende Handlung zieht den Betrachter musikalisch mit in den Bann ihrer Traumwelten. In Bohuslav Martinůs harmonisch geweiteter Tonalität werden Sprache, Rezitativ und Arioses wild collagiert, Erinnerungsmotive und die Wiederkehr ganzer Abschnitte erzeugen ein psychisches Perpetuum mobile.
In diese Geschichte sind deutlich Elemente anderer moderner Opern eingeflossen: wie der als letzten Wunsch am Galgen um sein Leben singende Elis in Schrekers „Der Schatzgräber“, praktiziert es auch Michel, auch ihm gelingt es so, der Exekution des Hängens zu entgehen. Und die Locke, als das wichtigste Erinnerungsrelikt in Korngolds „Die tote Stadt“, bietet bei Martinů ein Händler der Erinnerungen feil. In Claus Guths Inszenierung tritt noch das von Loriot literarisierte und von Castorf zu Bayreuther Festspielehren erhöhte Badeentchen hinzu.
In Guths Lesart ist Michel der Mörder von Juliette, und die Handlung des zweiten Aktes – die Wiederbegegnung Michels mit Juliette – spielt „24 Stunden“ vor der Handlung des ersten Aktes, worauf er mit einer Projektion hinweist.
Die in dieser Inszenierung durch zusätzliche Einschnitte weiter partikularisierte, rasche Abfolge szenischer Vorgänge im 1. Akt wird so zur Visualisierung von Michels Psychogramm, der sich in einem Kastenraum als „innerem Archiv“ vergeblich müht, in zahllosen Fächern, Klappen und Schubladen Tat und Tatwaffe zu verbergen. Doch das Verdrängte bricht immer wieder durch. Für den Wald im zweiten Akt senken sich im Bühnenbild von Alfred Peter zwei riesige Gummibaumblätter herab, und im dritten wird der leere Bühnenraum mit Dampf eingenebelt. Schließlich wird am Ende auf der Hinterbühne der Kastenraum des ersten und zweiten Aktes erneut sichtbar.
Im intensiv gearbeiteten Spiel entsprechen vervielfachte Details als szenische Motive der spezifischen Kompositionspraxis von Martinů. Daniel Barenboim und die Staatskapelle arbeiten Debussys impressionistischen Einfluss heraus und alludieren den vom Neoklassizismus geprägten Ton der (mit Martinů altersgleichen) Groupe des Six in Bohuslav Martinůs lyrischer Oper H. 253 heraus. Im zweiten Akt, der auch einmal an Wagners Waldweben gemahnt, dominiert nach der Detailliebe des ersten symphonischer Farbenreichtum.
Den Text des auch verfilmten, als Schauspiel erfolglosen Dramas hat der Komponist mit Einwilligung des Autors auf etwa die Hälfte und reduziert. Die Oper erklingt Berlin in französischer Originalsprache.
Sechs Tänzer in der Choreographie von Ramses Sigl und der von Martin Wright einstudierte Chor und leisten mit ihren Aktionen den Surrealisten stärker Tribut als die vergleichsweise braven Kostüme von Eva Dessecker.
Unter den zahlreichen Solisten in zumeist mehrfachen Rollen ragen Thomas Lichtenecker, der die Mezzopartie des kleinen Arabers als Countertenor interpretiert, und Richard Croft als Briefträger, Waldhüter und Traumbeamter heraus.
Getragen wird der Abend von zwei Stars der internationalen Opernszene, Magdalena Kožená in der Titelpartie und Rolando Villazón als Michel.
Stimmliche Probleme in der Mittelage fallen bei Villazón nicht ins Gewicht, angesichts der faszinierenden, durchaus Anforderungen des Tanztheaters gewachsenen Darstellungsintensität dieses Tenors. Clownesk im Slapstick und erfüllt von chaplinesker Traurigkeit, strauchelt und purzelt Villazón durch seine surreale Umwelt und kämpft sich geradezu schwebend in Zeitlupe durch die Nebelschwaden des Zentralbüros für Träume. Reinen stimmlichen Genuss bereitet Villazóns Zwiegesang mit der zwischen diesseitiger Weiblichkeit und traumhafter Phantasmagorie changierenden Magdalena Kožená.
Ovationen des Publikums für diese beiden Protagonisten schließen auch die weiteren Solisten, den Chor, die Staatskapelle und ihren GMD sowie das Regieteam mit ein.
Ein großer Opernabend, szenisch und musikalisch ein Erlebnis!
- Weitere Aufführungen: 2., 5., 7., 10., 14., 18. Juni 2016.