Enno Poppe gehört zu den herausragenden Komponisten, deren Werke nach der Premiere zahlreiche Wiederaufführungen erleben und damit einlösen, was ein Fachforum wie die Donaueschinger Musiktage mit zahlreichen anwesenden Multiplikatoren, Redakteurinnen und Veranstaltern idealerweise bewirkt, aber nur selten leistet.
Treff-, Start- und Endpunkt Donaueschingen
Wie die Quelle der Donau hinaus in die Welt, gingen von hier bislang Poppes „Rad“ für zwei Keyboarder (2003), der sechsteilige Ensemblezyklus, „Speicher“ (2013) und die live gespielte elektronische Musik „Rundfunk“ für neun Synthesizer (2018). Auch sein nun uraufgeführtes „Streik“ für zehn Drumsets hat trotz der speziellen Besetzung das Zeug zu einer internationalen Karriere. Die Verzehnfachung des typischen Soloinstruments verkörperte außerdem exemplarisch das von Lydia Rilling als künstlerischer Leiterin gesetzte Festivalmotto „alonetogether“, das ebenso musikalisch wie gesellschaftlich verstanden werden wollte.
Soli und Tutti
Das Schlagquartett Köln erweiterte sich 2018 zum Percussion Orchestra Cologne anlässlich einer Aufführung von Edgard Varèses „Ionisation“ für dreizehn Schlagzeuger und der Premiere von Poppes „Schrauben“ für weitgehend die gleiche Besetzung. Nun füllten zehn Drumsets den Bartók-Saal der Donauhallen, um vor Ort fünf Tage lang zu proben und dann „Streik“ uraufzuführen, in dessen Titel auch das englische „strike“ (=schlagen) anklingt. Wie viele Stücke von Poppe, beginnt auch dieses mit einem einzelnen Ton. Der synchrone Schlag auf allen zehn hohen Tomtoms lässt in seiner rhythmisch-instrumentalen Einheit bereits die materiale Vielheit geringfügig anderer Tonhöhen dieser streng standardisierten Instrumentenkombination erkennen. Die punktförmige Keimzelle birgt den genetischen Code für alle nachfolgenden Entwicklungen, Strukturen, Prozesse, Abschnitts- und Formbildungen. Der initiale Schlag wird mehrmals wiederholt und durch minimale Versetzungen immer stärker zur prasselnden Impulsfolge verstreut. Wie eine immer flacher an die Ränder gestreckte Gaußsche Normalverteilungskurve zersplittert der Akzent zu verschiedenen Einsatzzeitpunkten, Tonhöhen, Dauern und Valeurs der auch optisch unterschiedlichen Drumsets.
Der Reihe nach lässt der 1969 geborene Komponist dann alle Instrumente einen solchen Entfaltungszyklus durchlaufen: Bass- und Snaredrum, Becken, Hi-Hat, Glocke, Trommel. Die Ausgangspunkte sind entweder Einzelimpulse oder längere Schlagfolgen, so dass unterschiedliche Dichtegrade resultieren. Außerdem sorgen verschiedene Schlägel, Sticks, Jazzbesen, Schwämme oder Superballs für stets andere Klanglichkeiten. Mal laufen Einzelaktionen wie beim Dominoeffekt von einem Drumset zum nächsten. Ein anderes Mal akkumulieren sich Wirbel sämtlicher Snaredrums zu tsunamiartigen Klangwellen, als würde Schotter von zehn Kippladern gleichzeitig auf das Publikum einprasseln. Ohrenbetäubende Wucht erzeugen auch Knotenpunkte verschiedener Rhythmus- und Temposchichten, die schlagartig massive Tutti-Akzente bilden, um im nächsten Moment wieder eigene Wege zu gehen. Eben noch in Deckung gegangen, werden die Ohren im nächsten Moment wieder ganz offen und groß für die individuellen Färbungen von zehn nacheinander sanft angeschlagenen Becken oder zart gewischte Trommelfelle. Die konstruktive Regelhaftigkeit, kombiniert mit instrumentaler Varianz, stiftet sowohl wiedererkennbare Form als auch sinnlichen Abwechslungsreichtum und eine über die lange Dauer von fast einer Stunde tragende Dramaturgie. Großartig!
Konzert und KI
Wie Poppe gehört Simon Steen-Andersen zur gegenwärtig mittleren Generation international erfolgreicher Komponisten, die bei den Musiktagen mehrfach für Furore sorgten: 2014 mit dem spektakulären „Piano Concerto“ für Klavier, Sampler, Orchester und Video und 2019 mit dem monströs groß besetzten „Trio“ für Orchester, Chor, Bigband und Video. Nach zahlreichen multimedialen Arbeiten beschränkte sich der 1976 geborene Däne nun in „grosso“ auf ein reines Instrumentalkonzert. Das ausgezeichnete New Yorker Quartett Yarn/Wire agierte solistisch mit einem Leslie-Lautsprecher, in dessen Innerem Speaker und Reflexionsflächen rotieren, so dass Tonbeugungen, Vibrationen, Doppler-Effekte und Schwebungen entstehen. Elektronisch verstärktes Knistern, Ticken, Brummen und Rauschen des Apparats setzte das Soloquartett durch klangverwandte Aktionen mit Akkuschrauber, Kalimba, Mundharmonika und über Vibraphonplatten bewegtem Mikrophon fort. Die kleinteilige Frickelei beantwortete dann das SWR Symphonieorchester als großes Ripieno im barocken Concerto grosso mit Imitationen und Anspielungen an Rock, Pop, Bigband und gleißend scharfen Tutti-Akkorden wie eine riesige lebende Hammondorgel, deren volle Register die Dirigentin Susanne Blumenthal mit bloßen Händen aus der Luft zu greifen schien.
Impulsiv, hellhörig und hoch konzentriert leitete Blumenthal den exzellenten Klangkörper auch bei der Uraufführung von George Lewis’ Doppelkonzert für menschlichen Solisten und KI-Pianisten. Die Improvisation von Sopransaxophonist Roscoe Mitchell beschränkte sich jedoch auf hohes Fiepen, das im KI-gesteuerten Selbstspielklavier keinerlei nachvollziehbare Wirkung auslöste. Statt sich mit Aktion, Reaktion, Stich und Replik erkennbar zu duellieren, mauschelten Mensch und Maschine bloß belanglos miteinander. Das gemeinsame Geklimper entbehrte ebenso künstlerischer wie künstlicher Intelligenz sowie aller spieltechnischen Erweiterungen, mit denen das Disklavier problemlos das Normalmaß eines Pianisten mit zehn Fingern hätte sprengen können. Sollte es Lewis darum gegangen sein, die Ebenbürtigkeit beider Pole bezüglich ihrer Limitierung zu demonstrieren, so ist ihm dies gelungen. Mit dem Titel „The Reincarnation of Blind Tom“ huldigte der US-amerikanische Komponist dem 1849 als Sklave geborenen Pianisten Tom Wiggins. Weil Sklaven keine Subjekte gewesen seien, assoziiert Lewis das blinde Wunderkind mit ebenso subjektlosen Robotern und KIs, die heute allerdings – was den Vergleich absurd macht – nicht menschliche Ohnmacht, sondern technologische Weltmacht verkörpern.
Die 1954 in Paris geborene Komponistin Pascale Criton zielte schließlich mit ihrem Orchesterstück „Alter“ nicht auf Temporalität, sondern Alterität im Sinne eines Alter Ego oder ganz Anderen. Zu erleben war indes altbekannte Klangfarbenmusik wie aus den 1960er-Jahren von Scelsi oder Ligeti mit mikrotonalen Liegetönen und von flirrenden Schwebungen umwölkten Vokalisen der Sopranistin Juliet Fraser.
Queerness und Natur
Auch beim Donaueschinger Debütkonzert des Kollektivs lovemusic klafften aktivistische Ansprüche und kompositorische Resultate auseinander. In Kari Watsons „Enclosures“ sollten die Bereiche zwischen Anfangs- und Zielton von Glissandi programmatisch für Transgender und Queerness stehen, was man jedoch nicht hören konnte, sondern nur dem Werkkommentar entnahm. Denn Glissandi sind zunächst einfach nur Glissandi, an deren glattem Gleiten alle Aufladungen durch sozialpolitisches Engagement und Empowerment abperlen. In Hannah Kendalls „Tuxedo“ dialogisierte Sängerin Rosie Middleton über dezentem Klanghintergrund mit einer durch Dreadlock-Klammern angeblich kreolisierten Violine, obwohl die Präparation weder zu sehen noch zu hören war. David Birds „Hinterlands“ wollte mysteriöse Artefakte durch ein Wurmloch vom Mars auf die Erde schicken, wo die Schwerkraft jedoch alles Außerirdische zu allzu terrestrisch-menschlichen Klangbändern verflachte. Atmosphärisch einlullende Wohlfühl-Loops plätscherten auch bei Laura Bowlers „Blue“ zu verbläuten Video-Meereswellen in den Mozartsaal. Statt die intendierten Inhalte der Stücke durch dezente Inszenierung zu verdeutlichen, verband das junge und 2025 mit dem Ensemblepreis der Ernst von Siemens-Musikstiftung geförderte Straßburger Ensemble die vier Stücke lediglich durch wechselndes Licht und belanglose Klänge aus Radio und Kassettendeck.
Wie im vergangenen Jahr boten die Donaueschinger Musiktage auch diesmal kaum alternative Präsentationsweisen. Fast alle Veranstaltungen klebten am konventionellen Konzertformat. Umso dankbarer war das Publikum für den Ortswechsel in den Schlosspark, wo zu nächtlicher Stunde vor farbig beleuchteten Bäumen Kontrabassist Florentin Ginot auf kleiner Bühne die Klänge seines Instruments durch einen inneren und äußeren Lautsprecherkreis wunderbar ins Weichbild der Nacht und um das Publikum schweben ließ. Während letzte Wasservögel schnatternd die Flucht ergriffen und ferne Züge leise vorüberrauschten, hüllte Carola Bauckholts „My Light Lives in the Dark“ die Park-Lichtung in tiefes Brummen auf dem Saitenhalter. Anschließend konkretisierten sich die Instrumentalklänge punktuell zu Vogel- und Hirschrufen sowie knatterndem Motorrad, um am Ende wieder rein musikalisch ein zartes Duett mit zugespielten Flageoletts zu bilden. Dem empfindsamen Natur-Tableau folgte als erfrischender Kontrapunkt Lucia Kilgers energetisches „mescarill“ mit rockigen Verzerrungen, technoider Elektronik und artifiziell zu giftgrünem Sommerlaub erblühten Herbstbäumen. Von Kilger stammte auch das ausschließlich für den digitalen Raum in Auftrag gegebene Video „smonize“. Zu wahlweise sanft gewellten oder pulsierenden Klangflächen kreisten leuchtende Kunststoffobjekte wie fluoreszierendes Zooplankton der Tiefsee mobileartig über den schwarzen Monitor, bis sich ein autonom bewegender Organismus als avatarartig verkleidete Tänzerin Ria Rehfuß entpuppte.
Hallig und heilig
Plastisch tiefengestaffelten Surround-Sound voll Farb- und Leuchtkraft brachten das SWR Experimentalstudio und das im Raum verteilte SWR Vokalensemble unter Leitung von Yuval Weinberg in den sonst völlig unauratisch-trockenen Bartók-Saal. Claudia Jane Scroccaros neorituelles „On the Edge“ empfing das Publikum bereits im Foyer mit Gesang, bevor man grüppchenweise in die vormalige Viehversteigerungshalle gelassen und vierzig Minuten lang vom wabernden Wohllaut himmlischer Chorscharen und celester Sphärenklänge ertränkt wurde. Während sich der 1946 in London geborene Michael Finnissy in „Was frag ich nach der Welt“ kongenial in keiner Weise um Welt und Text von Andreas Gryphius scherte, konfrontierte Franck Bedrossians Baudelaire-Vertonung „Feu sur moi“ den bis zum Schrei gesteigerten Chor mit aggressiv-kriegerischem Soundtrack. Die konträre Anlage von vox humana versus maschinenhaftes Rattern und zischende Schrapnells prägte schon Luigi Nonos politische Musik der 1960er- und frühen 70er-Jahre, ist also nichts Neues und dennoch Ausdruck unserer von Krieg, Hass und Gewalt zerrissenen Gegenwart.
Mark Andre wählte für sein puristisch-puritanisches „…selig ist…“ dieselbe Kombination aus live spielendem Pianisten mit elektronisch verarbeiteten Klavierklängen wie Nonos „… sofferte onde serene…“ von 1976. Während der venezianische Nachkriegsavantgardist selbst im Jahr seines einhundertsten Geburtstags weitgehend vergessen scheint, setzen andere Komponisten zentrale Aspekte seines Schaffens geflissentlich fort. Mit Wechseltönen, Trillern, Repetitionen, Clustern und Läufen pumpte Pierre-Laurent Aimard fast fünfzig Minuten lang Energie in den Konzertflügel. Die vielfältigen Schwingungen auf dem Saitenchor wurden dann als astrale Sphärenklänge über Lautsprecher in den Raum projiziert. Im Werkkommentar betonte Andre gleich viermal, dass es sich um eine „Musik des Entschwindens“ handelt. Der gläubige Christ bekannte damit einmal mehr sein musiktheologisches Credo: Das Verklingen ist des Tones Tod und die elektronische Transformation seine transsubstantielle Auferstehung. Wie Andre und Scroccaro befriedigte im Abschlusskonzert dann auch Chaya Czernowins vierzigminütiges „Unforseen dusk: bones into wings“ mit ruhigem Atmen und klarem Singen der Neuen Vocalsolisten eben jene „sakralen Sehnsüchte“, die einst Peter Niklas Wilson 1992 dem damaligen Kult um die Musik von Scelsi, Feldman und dem späten Nono bescheinigte.
Hyper und Hipster
Nahezu 8.000 Menschen besuchten die diesjährigen Donaueschinger Musiktage, deren 14 Konzerte eine Auslastung von über 90 Prozent erreichten. Erneut nahmen auch wieder etwa hundertzwanzig Studierende europäischer Musikhochschulen am Zusatzprogramm Next Generation teil. Das Abschlusskonzert des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Vimbayi Kaziboni bot neben Czernowins „Unforseen dusk“ zwei weitere neue Stücke, die nichts anderes als Fun, Happiness, Joke, Spaß und Lust im Sinn hatten. Francisco Alvarado huldigte in „REW · PLAY · FFWD“ seinem einst kindlichen Spiel mit einem Kassettenrekorder. Der 1984 geborene Chilene behandelte das Orchester wie einen riesigen Live-Sampler, mit dem sich Klang- und Musikschnipsel verschiedenster Stile nach Belieben abrufen, loopen, remixen, scratchen, buffern oder sonst wie manipulieren lassen. Doch das aufgekratzte Showpiece aus Mickey-Mousing, Spektralismus, Noise und Hollywood-Bombast begann schnell zu langweilen, weil die für sich genommen guten Zutaten zum Smoothie verquirlt ihre Konsistenz und Bissfestigkeit verloren. Ein Softdrink für Hipster.
Wie unter kollektiv verabreichtem Ecstasy wurde schließlich Sara Glojnarićs „DING, DONG, DARLING!“ in hohem Tempo von aufgekratzten Sechzehntelketten durchpulst. Die 1991 in Zagreb geborene Komponistin will mit „Queer Joy“ die Lebens- und Liebeslust von Personen LGBTQ+ feiern. Zweifellos gibt es verschiedene Geschlechter und sexuelle Vorlieben. Doch äußern sich deren Lachen und Freuen anders als bei anderen Menschen? Mit viel Copy & Paste arrangierte Glojnarić einen hyperagil rasenden Stillstand aus House, Hyper-Pop und Glitter.
Die fünfköpfige Jury aus Mitgliedern des SWR Symphonieorchesters erkannte dem Stück nach langer kontroverser Diskussion den Orchesterpreis zu. Dieser besteht nicht aus Geld, sondern darin, dass das Orchester dem ausgewählten Werk ein Weiterleben jenseits des musikalischen Entbindungsheims und Uraufführungsfriedhofs Donaueschingen zutraut und dazu aktiv mit einer eigenen Wiederaufführung andernorts beiträgt.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!