Händel lebte exzessiv, hatte hohen Blutdruck, überlebte einen Schlaganfall. Besaß einen ungeheuerlichen Enthusiasmus, eine Begeisterung und auch eine außerordentliche ethische Fähigkeit sich den Dingen vollkommen zu widmen, weil er diese eben auch gefühlsmäßig, nicht nur technisch beherrschen wollte. Stefan Zweig porträtierte Händel in seiner Erzählung „Georg Friedrich Händels Auferstehung“ als eben diesen „Uomo universale“ der Musik, als monarchisch barocker Komponist und zugleich, in einem modernen Sinn, als einen transnationalen Gesamtkünstler. „Sternstunden der Menschheit“ nannte Stefan Zweig seine Sammlung von essayistischen Lebensbildern, in der er nicht nur Händel, sondern auch andere ihm wichtige europäische Geistesgrößen porträtierte.
Überschreibungen: Johannes Harneits Musiktheater „Händel’s Factory“ an der Opera Stabile in Hamburg uraufgeführt
Händel 1741 stand, wie schon öfters, am Rand des Bankrotts und war auch gesundheitlich angeschlagen. Da bekam er das Libretto des „Messias“, das er in einem magischen Schaffensrausch, innerhalb weniger Wochen komponiert haben soll. In Zweigs idealisierter Auslegung genas der Komponist durch die Arbeit am „Messias“. Vieles davon ist Legende. Christoph Klimke hat in seinem Libretto mit Raffinesse Stefan Zweigs Essay auf seine Essenz eingedampft und szenisch umgesetzt. Neu hinzukam, um Händels Wirken irgendwie mit der Moderne zu verbinden, die wenig überzeugende Verbindung zur Pop-Art-Ikone Andy Warhol, der abgesehen von seiner Geschäftstüchtigkeit angeblich ähnlich wie Händel auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit war.
Bazon Brocks Feststellung, dass das Theater als „Nachstellung der grundsätzlichen Konfrontation des Menschen mit dem, was die Welt als Echoraum konstituiert“, fungieren kann und das eben genau das den Reiz einer Theateraufführung ausmacht. Johannes Harneit gehört zu den Komponisten, die die Augen vor der Realität nicht verschließen und sich nicht an der Hoffnung festhalten, man müsse Neues nur oft genug anbieten und engagiert dafür werben, dann werde das träge Publikum schon dafür zu gewinnen sein. Das Neue seiner Werke resultiert nicht notgedrungen aus der Avanciertheit der Stilmittel, sondern aus neuen Sichtweisen, wie sein neues Werk, „Händel’s Factory“ eindrucksvoll beweist.
Johannes Harneit hat sich akribisch mit der Musik Händels auseinandergesetzt und wählte eine Kompositionstechnik, die man in der Literatur „Überschreibung“ nennt. „Die Farben und Aggregatzustände der Musik folgen“, so beschreibt es Harneit, „den szenischen Verläufen. Wir hören auch Proben von Musik, unfertige Stücke, Änderungen während des Komponierens, Träume und Visionen.“ Konkret bedeutet das, dass die Komposition fast nur aus Zitaten von Händels Musik besteht. Johannes Harneit arbeitet dabei mit radikalen Streichungen. Was von Händels Kompositionen übrigbleibt, ist ein musikalischer Dialog von Ausschnitten, deren Herkunft noch erkannt werden kann, aber innerhalb des kompositorischen Systems von Harneit in einem neuen Kontext erklingen und natürlich auch bearbeitet wurden. Die klangliche Reduzierung auf Trompete, Horn, Fagott, Cembalo und Streichquintett bietet zudem neue Klangeindrücke.
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