Leicht hat man es an einem Thüringer Theater mit dem „Freischütz“ nicht. In Altenburg etwa wurde das Haus 1871 damit einst ebenso eröffnet, wie nach der Sanierung 1995. Und dann prunkt natürlich die Inszenierung in den Annalen, mit der Peter Konwitschny von hier aus 1983 seine Weltkarriere begann. Diese später für Hamburg wiederbelebte Produktion steht dort übrigens immer noch auf dem Spielplan.
Dabei hat das Nationalopern-Schmuckstück, weniger mit dem tatsächlichen Stand des Nationalen, als vielmehr mit dessen Schattenseiten und Ängsten zu tun. Es sagt weniger über die Strahl- und Bindekraft des Nationalen, als über den psychischen Zustand einer Volksseele, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts irgendwo zwischen Kriegserfahrung und Selbstüberforderung auf dem Weg zur kollektiven Selbstfindung und einem entsprechenden Selbstverständnis verhakt hatte. Dass Carl Maria von Webers genialischer Wurf von Anfang an ein musikalischer Voll-Treffer war, hat seinen Ruf befördert, ganz gleich wie weit er sich wirklich ernsthaft belegen lässt. Aber in der Kunst geht es ja eh mehr um die gefühlte Wahrheit und die eignen assoziativen Räume, die sich für jeden öffnen, als um exaktes Messen an Kriterien.
Und so sind denn auch alle jüngeren Thüringer Freischütz-Versuche genau das: Versuche. Ob nun in Meiningen Philipp Stözels Spiel mit den Gruseleffekten der Summfilmästhetik, ob in Erfurt Dominique Horwitz’ altklug dekonstruierende Neuordnung der musikalischen Nummernfolge oder Guy Montavons große Wolfschluchtshow auf den Domstufen und zuletzt in Weimar, Andreas Moses’ Diagnose sowohl der jüngerer Vergangenheit, als auch der zu befürchtenden nächsten Zukunft.
Bei den Kriegstraumata, die noch den Frieden vergiften, setzten jetzt auch Regisseur Bruno Berger-Gorski und sein Ausstatter Knut Hetzer in Altenburg an. Dass die Spottchöre einer ausgelassen feiernden Meute, die zu wüsten Grapschereien mit sexuellen Übergriffen ausarten, Assoziationen zu den aktuellen Aufregern um die Kölner Silvesternacht aufkommen lassen, ergibt sich dabei eher nebenbei, ist wohl mehr der Klugheit des Werkes, als einer vordergründigen Absicht seiner Interpreten geschuldet. Wie Gewalt und Sex in einer männlich dominierten Gesellschaft zusammengehen, liegt bei den Jägern und ihrem martialischen Johotrallala-Auftreten eh auf der Hand. Wenn bei diesem Jägerchor alle auf die verängstigte Agathe zielen, die nicht weiß wie ihr geschieht, dann lässt das an entlarvender Deutlichkeit genauso wenig zu wünschen übrig wie die obszönen Gesten mit den Gewehrläufen zwischen den Schenkeln zu Beginn. Max steht diesem martialischen Treiben noch hilfloser gegenüber als sonst.
Überhaupt dieser Max. Bevor es losgeht, erscheint auf dem Zwischenvorhang in Schreibmaschienenlettern der Verweis darauf, dass in der alten Volkssage vom Freischütz, auf die Webers von der Nachwelt ja reichlich bekrittelter Librettist Friedrich Kind zurückgegriffen hat, Max der Amtsschreiber Wilhelm war, der beim Probeschießen seine Braut tatsächlich erschießt und selbst im Irrenhaus landet.
Folgt man dieser Spur und lauscht dieser Tragik der Geschichte in der Musik nach, erübrigt sich am Ende der immer irgendwie faule Kompromiss der herrschenden Mächte auf Kosten der Liebenden. Schon, weil die keine Chance auf ein gemeinsames Leben mehr haben. Damit wird dann aber auch die Aufteilung in eine moralische Autorität des Guten (Eremit) und die abgründige Macht des Bösen (Samiel) überflüssig.
Konsequenterweise sind denn auch die beiden Prinzipien, die außerhalb der Verstandeskräfte und Gefühle, die Maßstäbe für das eigene Handeln liefern, in einer Person sozusagen dialektisch vereint. Und da in Altenburg alles auch eine Vision eines Max sein könnte, der an den Forderungen der Welt irre geworden ist, sind die Dämonen ohnehin in seinem Kopf und der eremitische Samiel oder teuflische Eremit entpuppt sich am Ende in Wahrheit als der Irrenarzt, der sich selbst einen weißen Kittel und seinem Patienten Max eine Zwangsjacke überstreift. An der Welt, wie sie ist irre zu werden wäre dann das Ende vom Lied.
Die Welt aber bleibt zurück, unter dem strengen Blick eines streng uniformierten Diktators Ottokar auf dem Hochstand, der hier einem Wachturm verdammt ähnelt. Der Himmel auf dem grafisch schönen Hintergrundprospekt ist eh zerschossen. Was eine ebenso atmosphärische Poesie entfaltet wie die Wolfsschlucht mit ihrem Kugelgießer-Feuerwerk, den menschlichen Höllenhunden in Leder, Kaspars blutverschmierter Brust und den Gruselbildern aufgespießter Kinderpuppen. Auch die bleichen, rotbestrumpften Brautjungfern scheinen von hier zu kommen. Ännchen versucht sie jedenfalls nicht hinzulassen in die angedeutete Stube. Und scheitert. Die Vorboten des Unheils sind stärker.
Am Ende hängt eine tote Agathe im Bilderrahmen. So jedenfalls sehen wir die Welt mit den Augen von Max aus seiner gepolsterten Zelle vorne rechts über dem Graben. Auch wenn es unterwegs, zumal beim frischen Spiel der Protagonisten nicht durchweg so aussieht, am Ende ist es ein ziemlich düsterer Freischütz geworden. Einer, der mehr an die Nachwirkungen der Wolfsschlucht als die Chance des Probejahres glaubt.
Musikalisch geht der GMD Laurent Wagner im Graben beherzt zur Sache. Wie auch der Chor, der freilich bei den dunklen Stimmen mehr Freude macht, als in den hohen Lagen. Von Chao Deng (Ottokar) über Johannes Beck als Erbförster bis zu Alexander Voigt als Kilian sind die kleineren Rollen solide besetzt. Akiho Tsujii ist ein spielfreudig trällerndes Ännchen, dem Max von Hans-Georg Priese ist sein Schicksal Gummizelle von Anfang an in die Glieder gefahren – seine Arien bewältigt er mit der Verve, die man von ihm aus seiner Meininger Zeit in Erinnerung hat. Kai Wefer nutzt die Steilvorlage des Bösewichtes im Stück darstellerisch und vokal für einen packenden Kaspar aus. Magnus Pionetek bewältigt seine Doppelrolle als Eremit und Samiel souverän. Anne Preuß freilich, die als Agathe arg gebeutelte, bringt mit ihrer fein leuchtenden Höhe den Glanz ins Ensemble, der jedem noch so dunkeln Freischütz gut bekommt.