Wo findet man riesige wehklagende Würmer, auf der Bühne popcornfutternde Solisten und eine Strelitzia reginae, die andächtig den Klängen aus einer grafisch notierten Partitur lauscht? Richtig, bei Wien Modern. Das von Claudio Abbado 1988 gegründete Festival für das Neue und Neugierige in der Musik ist in seine 37. Ausgabe gestartet und läßt gleich in der prall gefüllten Eröffnungswoche nicht nur in (vermeintlich) klassisch-frontal stattfindenden Konzerten die Ohren spitzen, sondern hinterfragt Konzertsituationen und Gesellschaft in überraschenden Formaten und Formen.
Und jetzt alle zusammen? – „Wien Modern“ eröffnet mit zwei Orchesterkonzerten seine 37. Edition
Schon das diesjährige Motto „Und jetzt alle zusammen“ lässt den schüchternen Gelegenheitsklassikhörer erzittern: Muss ich jetzt singen? Werden nun Bierzeltrituale auf ihren Zeitwert überprüft? Beruhigung erfolgt nicht – bei Wien Modern kann das alles passieren, und zwar (fast) gleichzeitig – in vier Wochen Festivaldauer sind 144 Veranstaltungen mit 48 Uraufführungen zu erleben. Lediglich das Arditti Quartett musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen, die Gesamtaufführung der Schönberg-Quartette wird 2025 nachgeholt. Arnold Schönberg gilt in diesem Jahr natürlich ein ausgiebiger Jubiläums-Schwerpunkt, um den sich u.a. in verschiedenen musikalischen Begängnissen der Komponist Manos Tsangaris kümmern wird, dem aber auch Aufführungen seiner Werke und ein neuer Film („Schönberg pfeifen“ von Marino Formenti) gewidmet sind. In vielen Ensemble- und Solokonzerten gibt es außerdem viele musikalische Perlen zu entdecken, die, wie etwa das Konzert von Maja Osojnik am Sonnabend im Schönbrunner Palmenhaus, auch ungewöhnliche Räume klanglich ausmalen.
Rausch, zentrifugal
Die beiden Orchesterkonzerte zur Eröffnung im Konzerthaus Wien und im Musikverein zeigten, wie vielfältig „Und jetzt alle zusammen“ anwendbar ist. Dem Community-Gedanken wurde nachgegangen, indem im Eröffnungskonzert die Stühle entfernt wurden und sich Orchester und Publikum munter im Saal vermischten. Den Rausch der sich dann zentrifugal im Konzerthaus verbreitenden Klänge hatte Iannis Xenakis in seinem Werk „Terretektorh“ für 88 im Raum verteilte Musiker schon vor sechzig Jahren erdacht. Ingo Metzmacher leitete mit ruhiger Hand das ORF Radiosymphonieorchester, das hier wieder eindrucksvoll seine musikalische Flexibilität bewies, pfiff, schlug und dröhnte.
Das Konzert begann mit „Flux“, einem Tripelkonzert für Horn, Trompete, Akkordeon und Streichorchester der Erste-Bank-Kompositionspreisträgerin 2024, der Slowenin Nina Šenk (geb. 1982), bei der zwei inselartig im Raum verteilte ruhige Ein- und Ausklänge einen komplexeren Mittelteil umrahmten – das war im „Concerto“-Charakter klassisch erdacht, fing aber eigentlich erst im sehr kurzen Schlussteil an, interessante Auflösungserscheinungen zu zeichnen. Manchmal ist leider ein Stück zu Ende, obwohl man gerade erst anfängt, in etwas Interessantes einzutauchen.
Das Gegenteil dieses Phänomens war beim Schlussstück des Konzerts der Fall, John Luther Adams’ „Become Ocean“ aus dem Jahr 2013 ist eine veritable Aquarienbegleitmusik und könnte in Drogerien für solche Fälle sicher vertrieben werden. Nach etwa sieben Minuten ist man gesättigt (gewässert), aber muss noch weitere fünfunddreißig überstehen. In den USA erhält man dafür den Pulitzer-Preis und bei Wien Modern eine Aufführung, denn die Bandbreite der heutigen Musik soll abgebildet werden – Widerspruch ist erlaubt, wird aber viel zu selten sicht- oder hörbar: ein einsames Buh fegte durch den Saal.
Gewürmeltes
In einem Prolog zum Festival würmelten am gleichen Tag Klangobjekte der Schweizer Brüder Cod.Act durch das Museum für Angewandte Kunst und brachte die Phantasie in eine gar nicht so ferne Science-Fiktion-Ausrichtung, in der KI sich tatsächlich körperlich als Stahlpendel oder algorithmisch sich windender Gummischlauch inkarnieren könnte – eher unangenehme Gedanken, die aber spätestens beim zweiten Orchesterkonzert verschwanden.
Das dem in diesem Jahr verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös gewidmete Konzert im Musikverein startete mit dem in diesem Jahr entstandenen Klavierkonzert „the purple fuchsia bled upon the ground“ der italienischen Komponistin Clara Iannotta, eine großartige, von Elena Schwarz am Dirigentenpult und den Wiener Symphonikern souverän und empfindsam musizierte Seelenmusik, die den Zuhörer vor allem über eine bis in kleinste Details ausgehörte Klangkomposition erreicht und berührt. In dieser ausufernden, zischenden und ratternden Eigenwelt schwebt Pianist Pierre-Laurent Aimard quasi mit dem Flügel über dem Bühnenboden und mischt sich hier und da tupfend oder energisch ein, oftmals gedoppelt durch einen Synthesizer im Orchester – ein Stück, das eine zweimalige Aufführung verdient hätte!
Nina Šenk war im zweiten Konzertteil mit einem weiteren Stück, einem „Konzert für Orchester“ zu hören, das mit dem Organismus Orchester und Béla Bartóks Vorbild aus dem Jahr 1943 klar traditionell verortet ist. Obwohl Šenk mit dem Instrument Orchester brillant umzugehen weiß, war kaum auszumachen, was sie eigentlich sagen will – vielleicht war das rein virtuose Spiel mit den Orchesterelementen in einer heutigen Sprache das Maßgebliche, von den Symphonikern allerdings hervorragend umgesetzt.
Nach innen gewendet
Mit einer fast dadaistischen Performance wurde Dieter Schnebel mit „réactions II“ kurz in den Saal gelassen und der notwendige Bühnenumbau zu einer skurrilen Szene mit Popcorn und Selfie-Time aufgehübscht, bevor Peter Eötvös, der dieses Konzert ursprünglich dirigieren sollte, ebenfalls ein musikalisch sehr würdevolles Gedenken erhielt, denn sein Bratschenkonzert „Respond“ ist oft nach innen gewendet und doch ein ganz typisches Werk des Ungarn, der das Miteinander Sprechen wie kaum ein anderer in seinen Werken kultiviert hat. Insofern wirkten die letzten in den Äther geworfenen Töne des unglaublich guten Solisten Antoine Tamestit wie eine Aufforderung, nicht wie ein Ende.
- Wien Modern, 30. Oktober bis 30. November 2024 – https://www.wienmodern.at/
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