Mit Mose ist Willy Decker ganz nach oben gestiegen. Mit Mose musste er am Ende wieder herunter. Waren dem Propheten auf der Höhe des Sinai die Tafeln offenbart worden, so hatte Decker auf der Höhe von Schönbergs Meisteroper den Grundriss seiner ersten Festspielzeit gefunden. Derweil war unten der Tanz ums Goldene Kalb längst im Gange. Die Szene kommt einem bekannt vor. Wie das Volk am Fuße des Sinai sein ganz eigenes Kulturprogramm entwickelt – Gottesidee hin, Bilderverbot her –, so hielten es die Ruhrtriennale-Musiktheater-Autoren offenbar mit Deckers Ruhrtriennale-Konzept. Beschwor dieser die horizontöffnende Parallelität von religiösem und künstlerischem „Urmoment“, erhoffte sich „Spiegelungen von Transzendenz im Künstlerischen“ (nmz 8/09), verstanden dies die Einen als Gummiformel, Andere als Freibrief für eskapistischen Neofundamentalismus. Ob dies der Grund war, dass die künstlerische Ausbeute von Deckers erster Ruhrtriennale bescheiden ausfiel, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch eins ist sicher: Hätte es nicht diesen „Moses und Aron“ in Deckers eigener fulminanter Inszenierung gegeben (nmz online, oper&tanz 10/09) – am Ende wäre er (beinahe) mit leeren Händen dagestanden.
Überhaupt hat diese erste Runde der Ruhrtriennale noch einmal den beträchtlichen Abstand betont, der sich zwischen Schönberg und unseren zeitgenössischen Musiktheaterautoren auftut. Da hilft es auch nicht, achselzuckend auf ein singulär dastehendes Meisterwerk zu verweisen. Insuffizienzen waren nämlich nicht allein im Musikalischen konstatierbar. Es ist die Reflexionshöhe der Moses-Oper, das Bewusstsein für die von Decker angesprochenen „Spiegelungen“, für Brechungen also, die in den Musiktheaterproduktionen der Ruhrtriennale schmerzlich vermisst wurden. In dieser Hinsicht hatte Schönberg den Ruhrtriennale-Autoren Einiges voraus. Er wusste noch, dass jede ordentliche Religion stets ihre eigene Religionskritik mit sich führt, ja, diese immerfort aus sich erzeugt: Keine Kirchen- ohne Ketzergeschichte, keine Gottesanbeter ohne Gottesleugner, kein Glaube ohne Zweifel und Verzweiflung, kein Wortpathos ohne Bilderdienst, kurz: kein Moses ohne Aron. Es ist diese Dialektik, die in das Opernfragment eines zum geistigen Judentum zurückgekehrten Komponisten eingeflossen ist, weshalb es Decker vollkommen zurecht zum Eckstein seiner, der jüdischen Kultur gewidmeten ersten Ruhrtriennale-Intendanz erklärt hat.
Und der Rest? Zwischen Religionsfolklore, mystischem Subjektivismus, einer draufgängerischen Experimentierstunde junger Theatermacher und neofundamentalistischer Therapiekunst (oder Kunsttherapie – ganz wie man will) war für jeden etwas dabei. Um mit letzterem zu beginnen, war es bedrückend, miterleben zu müssen, wie mit den Mitteln der Kunst der magische Bann der Religion wiederhergestellt werden sollte, dessen Brechung überhaupt erst eine autonome Kunst begründet hat. Womit die Versuchung der ersten Runde von Deckers Ruhrtriennale ihren Namen hatte:
„Tamar“
Inbrünstig wird ein Holzblock bearbeitet, Maultrommeln werden zum Schwingen, Klangschalen zum Klingen gebracht. Die barfüßig, in rituelles Schwarz Gewandeten umkreisen eine aus dem Gartencenter herbeigeschleppte Dattelpalme und stimmen ein Wolfsgeheul an als ob sie einem esoterischen Psychoworkshop entsprungen seien. So kreißt der Berg und gebiert eine „musikalische Installation“. Autor: Rupert Huber. Wobei, wie noch bei jedem Kultereignis, viel Ausdauer und Geduld mitzubringen waren. Ehe nämlich Huber sein ChorwerkRuhr-Solistenensemble das therapeutische Gejaule anstimmen ließ, hatte er Vorgruppen ausgewählt. Zunächst drei Butoh-Tänzer, deren Arbeit im Programmheft als „Bruch mit der Moderne“ beschrieben wurde. Am Rand einer tiefroten, leeren Spielfläche (Heiliger Boden?) vollführten diese allerlei Körperverrenkungen. Sodann war Markus Stockhausen plus Band aufgerufen, sich an „Goldstaub“ von Vater Karlheinz zu versuchen, jener lupenreinen Textkomposition („Lebe vier Tage ganz allein/Ohne Speise“), die im Wendejahr 1968 ganz nach Innen führte. Eine „intuitive“ Musik schwebte dem Komponisten vor. Bei Stockhausen junior blieb leider alles im Irdisch-Improvisatorisch-Geläufigen. Da half auch die verordnete, von Huber strikt eingeforderte viertägige Fastenkur nichts. Schließlich aber dann doch noch ein musikalischer Höhepunkt. Zwar raunte das Programmheft: „Stellvertretend für den jüdischen Priester betritt schließlich der Chor die innerste Tempelkammer“ – doch der Auftritt von ChorwerkRuhr galt in diesem Fall tatsächlich der Kunst. Was folgte, war eine transparente, ganz und gar beschwörungsfreie Interpretation von Bachs doppelchöriger Motette „Singet dem Herrn“ mit einem (wie stets) etwas wibbelig dirigierenden Rupert Huber. Dann große Umbaupause mit Aufstellung der Dattelpalme zwecks Besingen derselben und nachfolgendem Versuch, die Kunst zu rekultifizieren, den Künstler in einen Kultbeamten auf der Theaterbühne rückzuverwandeln. Hochnotpeinlich und sicher das Letzte, was Decker vorschwebte.
Als Gegenmodell zu solchem Eskapismus ein Ruhrtriennale-Musiktheater-Gastspiel, eine Produktion, die UNESCO-Künstler Jordi Savall im Auftrag der Pariser „cité de la musique“ bereits 2007 unter dem Namen „Jerusalem“ zur Uraufführung gebracht hatte. Installiert als Fest der großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam hatte Savall dafür in einer bewundernswerten Anstrengung jüdische, christliche und muslimische Musiker zusammengeführt. Beginnend bei den Posaunen von Jericho wurde Jerusalem, die Stadt der drei Religionen, besungen. Fest im Blick: die Idee des „himmlischen Friedens“. Eigentlich, so Savall, haben sich die drei nichts vorzuwerfen. Den Frieden wollen sie alle, meint er. Herausgekommen ist eine Art Musik-Friedenspanorama, aufgerollt in der Bochumer Jahrhunderthalle auf hohem Niveau von „Hesperion XXI“, von „La Capella Reial de Catalunya“ sowie vom Sufischen Ensemble „Al-Darwish“, darunter Musiker aus befeindeten Nationen wie Israel und Irak. Deckers „Spiegelungen von Transzendenz im Künstlerischen“ hatte Savall dabei ganz wörtlich verstanden, als Widerspiegelung von Oberflächen nämlich, womit das folkloristische Abdriften denn auch kaum mehr zu verhindern war. Kunst, hätte Schönberg gesagt, kommt nun einmal nicht von Wollen, sondern von Müssen.
Gemessen an dieser Zwangsläufigkeit hatte die zweite Eigenproduktion der Ruhrtriennale zu Leben und Werk des mit 35 Jahren früh verstorbenen Komponisten Claude Vivier (1948–1983) eigentlich alles richtig gemacht.
„Sing für mich, Tod“
nannte Lyriker und Dramatiker Albert Ostermaier seinen Text über den in einem Pariser Hotelzimmer erstochen aufgefundenen Komponisten, zusammengesunken über einer unvollendeten Partitur mit den Worten „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?“ Regisseur David Hermann hat Ostermaiers musikdramatischen Text mit seinem gruseligen Orgelton von „Heiligkeit und Verbrechen“ als Steinbruch benutzt. Vor einem illustrierenden Klanghintergrund verschiedener Vivier-Kompositionen wird die Geschichte dieser vom Geheimnisvollen umwehten Komponistengestalt als „Ritual“ nacherzählt.
Das subtile Spiel beginnt mit dem von einem Doppelgänger begleiteten Soloauftritt eines Schauspielers (blendend Stefan Kurt), öffnet sich mit dem Erscheinen zweier Frauen zu einem Stück dramatischem Musiktheater (Caroline Melzer, Maria Ricarda Wesseling) und endet, wie es angefangen hat. Ein Spiel wie hinter einem Gaze-Vorhang, erzählt als mystisch-melodramatische „Spiegelung von Transzendenz“, wozu die „musikFabrik“ unter Christoph Poppen Viviers sperrige, spätromantisch camouflierte Klangtrauben von weit in die Maschinenhalle Zweckel errichteten Fernbühnen beisteuerte.
„Autland“
Überraschend sollte sich Deckers Idee einer Parallelität religiös-künstlerischer „Urmomente“ ausgerechnet in der verspieltesten Produktion der Ruhrtriennale spiegeln. Der junge Moskauer Komponist Sergej Newski, ein Jörg-Herchet- und Friedrich-Goldmann-Schüler, hatte zusammen mit seiner Regisseurin Beate Baron Texte von Autisten mit seiner und Vokalmusik vom Renaissance-Komponisten Johannes Ockeghem collagiert. „Auf der Suche nach dem Urmoment der Stimme“ kommentierte dies Newski. Und wenn die 24 Solisten der „VocaalLAB Nederland“ und „Vocalensemble Kassel“ einmal nicht durchs Publikum rasten, sondern unter dem professionellen Dirigat von Titus Engel sangen, war alles im Lot. Vergessen, dass das Publikum Karrussel fahren sollte, sich auf Drehstühlen und Drehbühne zu so manchen Rotationen verhelfen sollte. Nun gut. Irgendwie bewegt sie sich doch – die Ruhrtriennale. Mehr hoffentlich, und nicht nur virtuell, in Runde 2.