„Ich betreibe musikalische Bildung im Sinne einer Art Volkshochschule, mit Werken quer durch die Epochen: zum Beispiel von Girolamo Frescobaldi und Louis Couperin oder auch mal alle vier Teile von Bachs Clavierübung, dann etwas Romantisches wie die Sechs geistlichen Gesänge von Hugo Wolf und klassische Moderne, aber wir wagen uns auch in die neue und neueste geistliche Musik und in die Sphären des Improvisatorischen vor. Die Freiheit beim Programmieren ist immer wieder eine Lust, aus dem exzellenten Repertoire geistlicher Musik über die Jahrhunderte eigene Schwerpunkte setzen zu können. Natürlich liebe ich Bach, Mozart und Mendelssohn, und damit bekommen wir die Kirche voll, aber wir fahren ein weit höheres Risiko“, meint Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn, der seit 1996 künstlerischer Leiter der 1991 gegründeten Konzertreihe „Musik am 13.“ in Stuttgart-Bad Cannstatt ist.
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Der Komponist Jörg-Hannes Hahn. Foto: Roberto Bulgrin
Undogmatische Programmplanung
Über das ganze Jahr finden an jedem 13. eines Monats Konzerte statt. Dazu gibt es Sonderkonzerte, den Internationalen Orgelsommer mit sechs oder sieben Konzerten in Juli und August, sodass insgesamt 20 bis 25 Konzerte, manchmal auch mehr, pro Saison durchgeführt werden. „Der Geist Gottes weht, wo er will“, so Hahn, „und man lässt sich von der Musik berühren oder eben nicht. Wichtig ist mir, dass unsere Programmplanungen undogmatisch sind und der Eintritt überwiegend frei ist, um allen sozialen Schichten den Zugang zu ermöglichen.“
Auch bei zeitgenössischer Musik geht das Publikum in der Regel mit und schätzt die Mischung von alt und neu, und von unmittelbar geistlicher Musik und solcher, deren spiritueller Gehalt eher untergründig zur Geltung kommt. „Im vergangenen März etwa hatten wir“, so Hahn, „ein Komponistenporträt Jörg Widmann, bei dem es Standing Ovations gab. Auf einmal war es völlig irrelevant, dass das jetzt Neue Musik war. Es war einfach Musik.“
Neben Bach, Stölzel, Rheinberger und vielen anderen gibt es an Neuer Musik in der laufenden Saison bis Sommer 2025 noch die Stuttgarter Erstaufführung von Cornelius Cardews „The Great Learning“ (2. Februar), ein Porträt der schwedischen Komponistin Lisa Streich (13. Februar), das inzwischen 20. Komponierenden-Porträt bei „Musik am 13.“, und die Kombination von Schlagzeug und Orgel mit Werken von Franz Jochen Herfert, Iannis Xenakis und Werner Jacob (13. Juni). Und Ende 2024 präsentierten Bachchor Stuttgart und Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unter Leitung von Jörg-Hannes Hahn im Konzert zum Ewigkeitssonntag die Uraufführung von „Lux Aeterna“ op. 100 des im sächsischen Zittau ansässigen Komponisten, Organisten und Dirigenten Neithard Bethke.
Eine besondere Entdeckung war die deutsche Erstaufführung mit revidierter Textfassung von Klaus Hubers „Sonne der Gerechtigkeit – Die Prophetie des Jeremias“ am 13. November anlässlich von Hubers 100. Geburtstag in 2024; die bislang einzige Aufführung fand vor 45 Jahren in einer Kirche in Riehen bei Basel statt. Hahn, der auch Leiter des Bachchors Stuttgart ist, sichtete diese „Funktionale Musik für einen Gottesdienst“ auf Mikrofilm in der Paul Sacher Stiftung in Basel und erachtete sie in jeder Hinsicht für aufführungswürdig.
Zum einen betont das Werk Hubers humanistische Prägung und die religiösen und politischen Dimensionen seines Schaffens. Zum anderen vereinte er in „Sonne der Gerechtigkeit“ Tradition und Innovation, wobei enger Bezug auf das gleichnamige alte Kirchenlied und moderne Klänge sowie direkte textliche Aussage und instrumentalmusikalische Abstraktion ungezwungen ineinander aufgehen. Zudem ist neben der großen Besetzung auch die Beteiligung der Gemeinde mit Singen, Sprechen und Rufen erforderlich.
Hahn beauftragte Tobias Rägle mit der Herstellung einer Partitur, und Pfarrer Eberhard Schwarz schuf, da ein vollständiges Libretto fehlte, eine neue Textfassung mit eigenen Worten und spirituell beeinflussten Texten aus der Literatur, die mit dem Bild von der „Sonne der Gerechtigkeit“ korrespondieren. Katharina Rikus, die Tochter von Klaus Huber und eine der führenden Interpretinnen seiner Musik, hielt eine bewegende Einführung. Fulminant interpretiert wurde das Werk dann von Lorenz Kauffer, Bariton, Götz Schneyder, Eberhard Schwarz, Eckart Schultz-Berg und Melanie Berg, Sprecher:innen, Olaf Tzschoppe und Hsin Lee, Schlagzeug, Michael Sattelberger, Orgel, Philharmonia Chor Stuttgart, Bachchor Stuttgart und Blechbläsersolisten Stuttgart unter Hahns Leitung in der Lutherkirche in Stuttgart-Bad Cannstatt.
Exemplarisch unterstrich dieses Konzert, dass sich die Reihe „Musik am 13.“ durch die Einbindung von Zeitgenössischem in historische und gesellschaftliche Kontexte womöglich mehr um das Musikleben und die Akzeptanz der Neuen Musik verdient macht als so manches Spezialistentum, das auch im Hinblick auf das Publikum oft im eigenen Saft schmort.
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