In einem sehr bemerkenswerten Konzert der Reihe „ Backstage On Stage“ im Freien Musikzentrum München am 22. März spielte der junge Pianist Amadeus Wiesensee Stücke von Claude Debussy, George Iwanowitsch Gurdjieff (um 1866-1949) und John Herbert Foulds (1880-1939).
Die Einführungen besorgte – wie bei der ganzen Konzertreihe – Christoph Schlüren, der als erstes den Titel des Abends „Unterwegs zwischen Antike und Orient“ erläuterte, der in der Zeit, als diese Musik entstand, zwischen 1914 und 1930, eine ganz bestimmte – rückwärts gerichtete – verklärende Bedeutung hatte. Man versprach sich davon ein echtes „Back To The Roots“. Was ja durchaus zeitgemäß und „modern“ war. Sowohl in der Malerei gleichfalls in Literatur und Musik war die Rückwendung zu den uralten Kulturen en vogue.
Weswegen auch Debussy in seinen „Six épigraphes antiques“ sich auf angebliche griechische Grabinschriften stützte, deren Texte in Wirklichkeit eine Erfindung seines Freundes Pierre Louÿs waren, und die natürlich bei den sechs Musikstücken nur Assoziationen hinzuzauberten. Amadeus Wiesensee spielte die fast nie zu hörende Originalfassung Debussys für Klavier Solo – normalerweise kennen wir diese Stücke in der Fassung für Klavier zu vier Händen.
Amadeus Wiesensees Spiel war äußerst ruhig und gespannt, die einzelnen Stücke entfalteten ihren Klangreiz gelassen – auch in virtuoseren Passagen nie vordergründig. Es wurde wieder einmal erlebbar, wie einzigartig Debussys Musik in der ganzen Geschichte bis heute war und ist. Nach diesen unter anderem raffiniert mit Ganztonleitern operierenden Stücken – diese quintlose Skala bietet ja kein harmonisches Zentrum, es sei denn durch sinnfällige Wiederholung eines ausgewählten Tons –, die eben durch Debussys improvisatorisch schweifende Meisterschaft jedes langweilende Moment verlieren, waren die fünf Stücke von Gurdjieff eine durchaus logische Fortsetzung. Dieser versuchte ja in seiner Musik – die er dem russischen Komponisten Thomas de Hartmann (1885–1956) vorspielte, vorsang oder vorpfiff, die dieser dann aufschreiben und arrangieren musste –, an noch ältere Quellen anzuknüpfen, die er auf seinen Reisen durch Zentralasien, den Kaukasus, Anatolien, die Levante und Ägypten entdeckt hatte. Amadeus Wiesensee spielte die fünf Stücke aus dem ersten der bei Schott erschienenen vier Bände. In einigen Stücke gibt es zwar Taktstriche für die linke Hand, die Melodie in der Rechten kennt jedoch keinen Takt und lädt zu freiem Spiel über den festen Rhythmen der Linken ein. Amadeus Wiesensee überzeugte sowohl mit der Gelassenheit und meditativen Konzentration, mit der er diese tänzerisch-schweifenden Kompositionen verwirklichte, als auch mit erlesener Klangkultur, feiner Kantabilität und unerbittlichem Momentum. Dass dadurch bestimmte Bewegungen evoziert werden sollten, wie etwa Derwischtänze, wurde sehr bald vernehmlich.
Nach der Pause dann der Höhepunkt des Abends: Eine echte Uraufführung nach 99 Jahren Schlummer in der Schublade. Von John Foulds im Jahr 1915 komponiert, seine fünf „Recollections of Ancient Greek Music“, bis zum 22. März unaufgeführt in ihrer ursprünglichen Fassung für Klavier (die Anfang der dreißiger Jahre daraus hervorgegangene Suite „Hellas“ für doppeltes Streichorchester mit Schlagzeug hat vor einigen Jahren das Münchener Kammerorchester unter Christoph Poppen gespielt). Diese fünf Stücke in lydischem, ionischem, äolischem, dorischem und phrygischem Modus entfalten ihren Reiz und ihre Tiefe, wenn sie so gespielt werden, wie es Amadeus Wiesensee tat: Spannung aus zutiefster Entspanntheit aufbauend, lauschend, die transzendente Grundhaltung dieser unerhörten Musik. Foulds wollte eine spirituelle Musik schreiben, und das ist ihm in einer tiefen und zugleich leichten Weise gelungen, dass es uns nicht verwundern sollte, wenn in einem Jahrhundert, das in seiner Ästhetik der einander bekämpfenden Subjektivismen mit dem Fortschritt um seiner selbst Willen beschäftigt war, so gut wie niemand davon Kenntnis nahm (mit Ausnahme einiger weniger wie des britischen Musikforschers Malcolm MacDonald).
Die Musik von Foulds, wie auch die von Gurdjieff/de Hartmann, mag einfach wirken, ihre Zutaten sind wahrhaft auf das Wesentliche reduziert, doch sie so darzubieten, dass der Spannungsbogen nicht abreißt, die Gesamtwirkung bezwingend ist, fordert weit mehr als vollendete Beherrschung des Instruments. Wie Wiesensee beispielsweise die mächtigen Akkordfortschreitungen mit aller Gewalt und zugleich durchscheinend, ja sogar in der mächtigsten Entfaltung noch mit Sanftmut zelebrierte, dürfte seinesgleichen nicht leicht finden. Das erinnerte mich gar an die unvergängliche Kunst Michelangelis. Der ganze Abend war, aller nötigen Geläufigkeit zum Trotz, von einer unerhörten Ruhe erfüllt, die man einem so jungen Musiker eigentlich gar nicht zutrauen würde.
Doch Dank sei auch dem Veranstalter, dem FMZ und Christoph Schlüren, die trotz noch nicht etabliertem Publikumszuspruch nicht nachlassen, Möglichkeiten weit entfernt vom Massenbetrieb des allgemeinen Musik-Business zu schaffen, und so mithelfen, dass solche selten oder nie auftauchende Musik von unbegreiflicherweise vergessenen oder völlig unbekannten Komponisten wenigstens für die gespielt wird, die sich dafür interessieren, noch dazu von einem solchen herausragenden jungen Musiker.