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Ungehobene Schätze im Woody Guthrie-Archiv

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Amerikanischer Künstler wird neu entdeckt – Tochter Nora Guthrie über ihre Pläne
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Manhattan, New York, ganz in der Nähe vom Central Park. Durch das Fenster im zwölften Stock eines Bürohochhauses dringt der Verkehrslärm. Als ob sie ihn nicht wahrnehmen würden, sitzen eine Frau und ein Mann an einem Schreibtisch, vertieft in handschriftliche Notizen und getippte Songtexte eines Mannes, der wie kein anderer Künstler mit seinen Liedern und Texten einen Einblick in die amerikanische Wirklichkeit gab: Woodrow Wilson Gutrie. 1995 schrieb Woody Guthries Tochter Nora einen Brief an den englischen Liedermacher Billy Bragg und fragte an, ob er Interesse habe, die Musik zu bislang unvertonten Songs ihres Vaters zu schreiben. Bragg sagte spontan zu. Mehrere Wochen verbrachte der Engländer kurze Zeit später im Woody Guthrie-Archiv und blätterte auf der Suche nach geeigneten Texten hunderte von eng beschriebenen Seiten Papier um.

Manhattan, New York, ganz in der Nähe vom Central Park. Durch das Fenster im zwölften Stock eines Bürohochhauses dringt der Verkehrslärm. Als ob sie ihn nicht wahrnehmen würden, sitzen eine Frau und ein Mann an einem Schreibtisch, vertieft in handschriftliche Notizen und getippte Songtexte eines Mannes, der wie kein anderer Künstler mit seinen Liedern und Texten einen Einblick in die amerikanische Wirklichkeit gab: Woodrow Wilson Gutrie. 1995 schrieb Woody Guthries Tochter Nora einen Brief an den englischen Liedermacher Billy Bragg und fragte an, ob er Interesse habe, die Musik zu bislang unvertonten Songs ihres Vaters zu schreiben. Bragg sagte spontan zu. Mehrere Wochen verbrachte der Engländer kurze Zeit später im Woody Guthrie-Archiv und blätterte auf der Suche nach geeigneten Texten hunderte von eng beschriebenen Seiten Papier um. Dabei entdeckte er einen gemeinhin unbekannten Woody Guthrie, der mit „This Is Your Land“ eine Art alternative amerikanische Nationalhymne geschrieben hat. „Woody ist kein Relikt aus der Zeit des Dust Bowl der 30er-Jahre“, sagt Bragg mit großer Überzeugung. „Er war ein großartiger Vertreter politischer Popmusik, bevor Pop überhaupt erfunden wurde, und“, fügt er hinzu, „die Ausdruckskraft seiner Lyrik ist nur mit einem Walt Whitman oder Mark Twain zu vergleichen“. Das Ergebnis seiner Recherche veröffentlichte Billy Bragg mit der amerikanischen Band Wilco auf den CDs „Mermaid Avenue“ und „Mermaid Avenue Vol 2“ – so benannt nach der Straße in New Yorks Stadtteil Coney Island, in der Woody Guthrie von 1943 bis 1950 lebte. Beide CDs wurden für einen Grammy nominiert.

Auf gerade einmal 20 Quadratmeter Fläche beherbergt das Woody Guthrie-Archiv weit über 10.000 Gegenstände, darunter unzählige Textbücher, Briefe, Tagebucheintragungen, Gedichte, Zeichnungen, Fotos, Notizen und Tondokumente aus dem Werk von Woody Guthrie. Zuvor wurden sie jahrelang in Kisten und Ablagen bei Noras Mutter Marjorie gelagert. Nora Guthrie war gerade einmal fünf Jahre alt, als ihr Vater 1955 mit der Nervenkrankheit Huntington´s Disease bis zu seinem Tod zwölf Jahre später ans Bett gefesselt wurde. Obwohl sie ihn regelmäßig sah, führte erst die Beschäftigung mit der „Hinterlassenschaft aus Papier“ in den letzten Jahren dazu, dass sie sich „in seine Texte verliebte“. In ihrer Arbeit als Leiterin des erst 1996 eröffneten Woody Guthrie-Archivs geht es Nora Guthrie vor allem darum, ihren Vater nicht als „Museumsstück“ zu bewahren, sondern die Bedeutung seines Werks auf die heutige Zeit zu übertragen. „Meine Horrovorstellung ist, ihn nur als Denkmal seiner Zeit in einer Ecke stehen zu lassen.“ Von dieser Grundeinstellung sind die vielen Veröffentlichungen von Nora Guthrie und dem von ihr geführten Guthrie-Archiv geprägt. Dazu gehören die gerade auf der CD „Daddy-O Daddy!“ veröffentlichten Neueinspielungen von Kinderliedern (u.a. mit Taj Mahal, Cissy Houston und Syd Straw) ebenso wie Buch- und Filmprojekte. Gemeinsam mit dem Smithsonian-Institut in Washington entwickelte Nora Guthrie die 1999 eröffnete Wanderausstellung „This Land Is Your Land – The Life And Legacy Of Woody Guthrie“.

Zunehmend wird das Archiv von Wissenschaftlern, Journalisten und Musikern aus aller Welt für ihre Arbeit genutzt. Die Aufarbeitung des Materials hat dazu beigetragen, das eindimensionale Bild von Woody Guthrie zu revidieren. „Bis vor neun oder zehn Jahren war jeder, der sich mit Woody beschäftigte, nur an seiner politischen Einstellung interessiert“, sagt seine Tochter. „Aber er war weit mehr als ein politischer Sänger und Aktivist. Er war zugleich Dichter, Maler und Zeichner. Nicht ohne Grund hatte er von Anfang an immer Gitarre und Farbpinsel im Gepäck.“ Nora Guthrie erinnert sich daran, dass ihr Vater auf Packpapier ebenso zeichnete wie auf den Seiten seines Terminkalenders. „Er benutzte vor allem Wasserfarben“, sagt sie und fügt hinzu: „Bei drei Kindern gab es ja auch reichlich Zeichenpapier im Haus.“

Woodys Arbeiten werden von Kunstkritikern mit dem Werk einiger etablierter amerikanischer Künstler der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts verglichen: mit dem des politischen Cartoonisten William Gropper, der Guthries marxistische Ansichten teilte, sowie mit dem des Malers Thomas Hart Benton, der ebenso wie Guthrie ein romantisches Verständnis vom einfachen Volk hatte. Ein Blick in die Schubladen, in denen Guthries Zeichnungen aufbewahrt werden, bestätigt die künstlerische Vielfalt des bislang fast ausschließlich als Sänger gewürdigten Künstlers. So fertigte er unter anderem seine eigenen Illustrationen für jedes seiner Bücher und für viele seiner Tagebucheintragungen an. Auch die Cover für seine Platten zeichnete Woody selber. „Selbst Postkarten, die er an meine Mutter schrieb, illustrierte er mit kleinen Strichmännchen“, sagt Nora.

Nora Guthries „Checkliste“ mit anstehenden Projekten ist voll. Allein über 2.000 unveröffentlichte Songtexte aus der Feder des Folkmusikers und Liedermachers „schlummern“ noch im Guthrie-Archiv. Gemeinsam mit dem kalifornischen Bassisten Rob Wasserman arbeitet Nora derzeit an einer CD mit Vertonungen von Tagebucheintragungen ihres Vaters. Erste Aufnahmen liegen vor mit Ani Di- Franco, dem Rapper Michael Franti von der Gruppe Spearhead, Lou Reed und Rubén Blades. Und dann liegt im Woody Guthrie-Archiv auch noch der Nachlass von Woodys Schwiegermutter, Aliza Greenblatt. Sie war eine politisch engagierte Poetin, die sich mit ihren auf Jiddisch veröffentlichten Büchern einen Namen gemacht hat. Von ihr habe Woody viel über den jüdischen Glauben und jüdische Traditionen gelernt. „,Woody Klezmer-Style’, das könnte der Arbeitstitel für eine CD mit diesen Stücken meines Vaters sowie neuen Vertonungen meiner Großmutter sein“, meint Nora und denkt schon darüber nach, mit welcher Band sie dieses Projekt verwirklichen kann.

Das Woody Guthrie-Archiv steht Besuchern nach Terminabsprache offen (www.woodyguthrie.org). In deutscher Sprache liegen Woody Guthries Autobiografie „Dies Land ist mein Land“ (Edition Nautilus 2001) und die von Joe Klein verfasste Biografie „Woody Guthrie“ (List 2001) vor. Rechtzeitig zum 90. Geburtstag des amerikanischen Barden am 14. Juli 2002 will der Berliner Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel (SWR-Liederpreisträger 2001, Träger des Deutschen Kleinkunstpreises, Sparte Chanson, 2001) eine CD mit deutschen Guthrie-Texten veröffentlichen, die auf Übersetzungen des Hamburger Autors Harry Rowohlt basieren.

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