Schicksalsmotive: Ein Unglück am Anfang, ein Unglück am Ende – und kein Glück zwischendurch?

Netrebko in prova. Foto: Brescia e Amisano И Teatro alla Scala
Unnennbare Oper? Verdis „La forza del destino“ eröffnet die neue Saison an der Mailänder Scala
Die Saisoneröffnung der Mailänder Scala ist stets ein Politikum. In diesem Jahr gilt das ganz besonders: Giuseppe Verdis „La forza del destino“ hat höchst dramatisch die letzte Spielzeit für Intendant Dominique Meyer eingeleitet. Da schaut die Welt der Oper natürlich nach Mailand, denn am berühmten Teatro alla Scala wurde immer schon Musiktheater-Geschichte geschrieben. Meist auf der Bühne, nicht selten aber auch hinter den Kulissen und mitunter sogar auf der Piazza vor dem altehrwürdigen Opernhaus selbst.
Dort gerät selbst der Tag des Stadtheiligen Sant’Ambrogio am 7. Dezember zum Politikum. Ein Feiertag in Mailand, der die ganze Stadt auf die Beine bringt und viele Menschen der Inaugurazione, der ersten Premiere der Saison, entgegenfiebern lässt.
Diesmal stand „La forza del destino“ auf dem Programm, Giuseppe Verdis „Die Macht des Schicksals“. Eine tragische Oper, deren Titel bis heute leichtgläubigen oder abergläubischen Menschen in Italien nicht über die Lippen kommt, da die Formulierung „La forza del destino“ angeblich Unglück bringt und daher mit „La potenza del fato“ ersetzt oder gleich als „L’Innominabile“ umschrieben wird, die Unnennbare. Zu viel Missgeschick ist in der Geschichte dieses grandiosen Musiktheaterstückes schon geschehen. Angefangen mit der Uraufführung 1862 in Sankt Petersburg, die wegen der Krankheit der Primadonna zunächst abgesagt werden musste. Wenig später erlitt der Librettist Francesco Maria Piave einen Schlaganfall. Es folgten zahllose Theaterunfälle, darunter mit besonderer Tragik 1960 an der Met der Bühnentod von Bariton Leonard Warren nach der Arie „Morir! Tremenda cosa“. Die Liste ließe sich fortsetzen: Just als „La forza del destino“ in Warschau auf dem Spielplan stand, überfiel die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen; im März 2011 wurde Japan von einem Erdbeben erschüttert, als das Orchester des Maggio Musicale Fiorentino mit dieser Oper in Tokio gastierte.
Im Dezember 2024 mag niemand daran gedacht haben. Dennoch waren die Polizeiabsperrungen noch drastischer als in den Jahren davor, als Proteste gegen das Establishment eher von rituellem Charakter getragen wurden – und nun wegen des lombardischen Regens gänzlich entfielen. Stattdessen hagelte es bösen Widerspruch gegen Anna Netrebko, deren Mitwirkung schon in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zum Moskauer Diktator und Kriegsherren umstritten gewesen ist. Dass ausgerechnet ihr „Pace, pace, mio Dio!“ im Schlussakt zu einem der wirkmächtigsten Bilder des Abends geriet, umgeben von einer kriegerischen Trümmerlandschaft, konnte auf Mailands Straßen freilich niemand ahnen.
Regisseur Leo Muscato hat die Macht dieser Schicksals-Oper von Akt zu Akt näher ins Heute gesetzt, beginnend mit der Entstehungszeit dieser tragischen Szenenfolge, die – auch ohne Aberglauben – von Unglück durchzogen ist. Eröffnet mit Unglück: ein versehentlich abgegebener Schuss tötet den Vater von Donna Leonora, der seine Tochter im Sterben verflucht, Unglück auch im Finale: Leonoras Bruder, im Duell mit ihrem einstigem Liebhaber Alvaro tödlich verletzt, ersticht die schuldlose Schwester in seinem letzten Lebenshauch. Was La Netrebko danach aber noch von sich gibt, ist kein Sterben im Forte, sondern ein berührendes Aushauchen dieses tragischen Rollen-Lebens, ist wahrlich ganz große Bühnenkunst. Sängerisch wie darstellerisch.
Die Glücksmomente dieser Oper aber finden sich vier Stunden lang in Verdis Musik und deren gelungene Umsetzung. Zum wiederholten Mal schmückte sich die Scala zur Saisoneröffnung mit Anna Netrebko, hier als liebend leidende Donna Leonora, die allen Protest weggesteckt hat und mit unangreifbarer Gesangskultur, Darstellungskraft sowie vor allem ihrer gereiften, menschlich warmen Stimme zu überzeugen vermochte. In ihrem Auftreten wurden Seelenzustände nachvollziehbar.
Der US-amerikanische Tenor Brian Jagde, der relativ kurzfristig für Jonas Kaufmann in der Partie des Don Alvaro eingesprungen ist, brauchte sich dahinter nicht zu verstecken und hat unermüdlich über einen langen Abend hinweg mit strahlendem Wohlklang überzeugt. Neben seinem Rivalen Don Carlo – gesungen von Ludovic Tézier – war er ein vor allem kraftvoller Sänger-Darsteller. In ihren Duetten haben die beiden enorme Potenz ausgestellt, mitunter zu kraftvoll, aber stets voller Wohlklang. Ausgewogener und spielerisch pfiffig agierte die russische Mezzosopranistin Vasilisa Berzhanskaya als Preziosilla, geradezu nobel ihr Landsmann Alexander Vinogradov als bassiger Padre Guardiano. Selbst kleinere Partien waren durchweg glänzend besetzt, nicht zuletzt auch der gleich zu Anfang erschossene Marchese, Leonoras Vater, den Fabrizio Beggi mit stolzer Tragik adelte.
Große, geradezu gewaltige Parts hatte der von Alberto Malazzi glänzend präparierte Chor zu absolvieren. Das Ensemble hat fulminant überzeugt, in jedem Moment klangschön, ausgewogen gestaltend und auch spielerisch enorm ambitioniert.
Zauberhafter Märchenwald und realistische Ruinen
Das sich nahezu permanent drehende Bühnenbild (ein Gleichnis auf das Fortschreiten der Zeit?) wirkte im ersten Akt bieder, im zweiten, wo Leonora Zuflucht in einem Kloster sucht, wie ein zauberhafter Märchenwald, und wird dann mehr und mehr Abbild von Kriegen und Kriegsschäden. Der Schlussakt spielt quasi im Heute, mit viel Aufwand sehr eindrucksvoll gestaltet von Federica Parolini, und zusätzlich um Wirkmacht bereichert durch die exzellente Lichtregie von Alessandro Verazzi. Szenische Aktion insbesondere im Chor sorgte für reichlich Bewegung, die Choreografie von Michela Lucenti ließ keine Langeweile aufkommen. Mitsamt der Kostüme von Silvia Aymonino geriet diese Neuproduktion zu einem Fest für die Augen.
Verdis seelenvolle Musik zum Libretto von Francesco Maria Piave und Antonio Ghislanzoni evozierte daraus ein Hörvergnügen, ein eindrucksvolles Fest für alle Sinne, schließlich gilt in Mailand noch mehr als anderswo der Grundsatz „Prima la musica“. Die wunderbar berührende, geradezu sprechende Komposition voller Ohrwürmer und emotional ergreifender Klangbilder lag bei Musikdirektor Riccardo Chailly in besten Händen. Vom packenden Vorspiel mit dem unvergesslichen Schicksalsmotiv bis hin zum fast ausgehauchten, leisen Finale war dies ein Abend tiefer Emotionalität. Orchestrale Opulenz, die vom Scala-Klangkörper in Reinstkultur umgesetzt worden ist.
Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden, dass dieser Abend der großen Renata Tebaldi gewidmet gewidmet war, die an diesem Haus selbst mehrfach die Donna Leonora gesungen hat und im Dezember vor zwanzig Jahren verstorben ist. Was nicht genug betont werden kann, ist der Versöhnungsgedanke dieser Oper, der uns heute wieder sehr zu denken geben sollte.
- Termine: 10., 13., 16., 19., 22. und 28. Dezember 2024 sowie 2. Januar 2025
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!