Am 25. August 1938 dirigierte Arturo Toscanini in Tribschen bei Luzern ein „Concert de Gala“. Das Konzert fand vor Richard Wagners ehemaligem Wohnsitz statt und wurde von über 80 Sendern in Europa und Amerika übertragen. Als „Festival Toscanini à Tribschen“ ging dieses Konzert in die Geschichte ein. 75 Jahre Lucerne Festival war folglich die große Überschrift, unter der in den Konzertsälen am Vierwaldstädter See in diesem Sommer Musik gemacht wurde.
Wer ein Festival der Retrospektiven erwartet hatte, sah sich getäuscht: Nach wie vor legt das bedeutende Orchesterfestival großes Gewicht auf seine Zukunftslaboratorien, die da sind: Die Schiene Moderne – dieses Jahr etwa mit Arbeiten der israelischen Komponistin Chaya Czernowin im Zentrum –, dann die Musikvermittlung und nicht zuletzt die Festival Academy. Zehn Jahre liegt es inzwischen zurück, dass Festivalintendant Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez dieses weltweit einmalige Akademie-Projekt aus der Taufe hob. Rund 130 junge Musiker erarbeiten jedes Jahr mit Dirigenten wie Pierre Boulez, Peter Eötvös oder Pablo Heras-Casado, mit Komponisten und Instrumentaldozenten des Ensemble Intercontemporain Orchester- und Ensemblewerke des 20. und 21. Jahrhunderts. Es zählt ausschließlich die Begabung und die Lust am Neuen, eine Studiengebühr gibt es nicht. Dieses Jahr wurde die Festival Academy von einem Ereignis beherrscht: dem Abschlusskonzert des Composer Project 2011 -– 2013 mit Werken des 1989 in Toulouse geborenen marokkanisch-libanesisch-französischen Komponisten Benjamin Attahir und des 1984 in London geborenen Christian Mason.
Dirigierkurse und Komponistenworkshops gibt es viele. Mit dem Composer Project ging das Lucerne Festival neue Wege was die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Uraufführungsdirigent betrifft. Normalerweise beendet zuerst der Komponist seinen Job und der Dirigent bekommt dann die Partitur zur Interpretation. In Luzern legt man Wert auf den Prozesscharakter: In der Praxis sah das so aus, dass Attahir von Beginn an „seinen“ Dirigent Daniel Cohen (Israel) zugeordnet bekam und Mason arbeitete seit drei Jahren in unregelmäßigen Abständen und vor allem während der Sommerakademie in Luzern mit Gergely Madaras (Budapest/London) zusammen. Für so ein Vorgehen braucht es Teamplayer: Das Werk wird so vom Interpret länger und bewusster angeeignet – und im Einzelfall nimmt er durch Gespräche mit dem Komponisten auch Einfluss auf das im Entstehen begriffene Werk selbst. Aus der dreistündigen Probe, wie sie im realen Musikleben vorkommt, wird ein dreijähriger künstlerischer Prozess. „Für die Dirigenten ist es wichtig, sich von den Noten zu lösen, sie zu verinnerlichen und auswendig zu dirigieren“, sagt Pierre Boulez, „sie müssen lernen, wie man die Ideen der Komponisten an das Orchester kommuniziert.“
Im Akademieorchester saßen folgerichtig bei der Uraufführung einige Musiker, die bereits seit drei Jahren an dem im Entstehen begriffenen Stück mitprobten. Und im gut gefüllten Auditorium des Kultur- und Kongresszentrums fand sich nicht nur das interessierte Publikum ein, sondern auch Kollegen und vor allem zahlreiche Gastfamilien der Musiker, die auf ihre Art an dem dreijährigen Prozess von Komposition und Interpretation partizipiert hatten. Das ist Musikvermittlung, wie sie besser nicht praktiziert werden kann.
Zum Uraufführungskonzert um elf Uhr hatte ein Orchester auf dem Podium Platz genommen, das von der Größe her (beinahe) jede Mahlersinfonie bewältigen könnte. Mit dem Werktitel „Isolarion“ bezieht sich Mason auf einen historischen Typ von Landkarten, die Gebiete im Detail zeigen, aber keine Beziehung zur Umgebung herstellen. Alle drei Sätze seines sinfonischen Werkes haben ihren Ursprung in einer Art Cantus firmus, repräsentieren aber völlig verschiedene Klangwelten.
Mason ist kein junger Wilder, aber ein junger Kenner, der die Möglichkeiten eines großen Orchesterapparates mit rauschhafter Lust ausschöpft. Während die beiden ersten Sätze zwei Großmeistern gewidmet sind, die in Luzern in den letzten Jahren eine starke Präsenz hatten, nämlich Pierre Boulez und George Benjamin, ist der dritte Satz „seinem“ jungen Dirigenten Gergely Madaras gewidmet. Vielleicht ein Hinweis darauf, welche Spuren die dreijährige Kooperation in Masons Arbeit hinterlassen hat. Madaras, der in diesem Jahr sein Debüt an der English National Opera hatte, dirigierte das hochmotivierte Academy Orchestra schlafwandlerisch sicher und zugleich mit Verve durch die großen und kleinen Formen der Partitur – er hatte tatsächlich jeden Ton verinnerlicht. Benjamin Attahirs einsätziges Stück „Sawti’l zaman“ (zu deutsch: „Die Stimmen der Vergangenheit“) bezog seine starke klangsinnliche Komponente aus dem cultural clash, oder besser aus dem Kulturaustausch zwischen orientalischen Modi und der Adaption eines Werkes des französischen Komponisten und Gambenvirtuosen Marin Marais. Attahirs Methode, tonale Musik in den Bereich des „zwölftönigen, chromatischen Totals“ zu überführen, gewann durch den solistischen Einsatz gegensätzlicher Instrumente wie Harfe und Tuba noch einen besonderen Reiz. Jungdirigent Daniel Cohen gelang es tadellos, die einsätzige Großform in ihrer komplexen Struktur zu entfalten, ohne sich etwa in den Details schöner Stellen zu verlieren. Nach diesem jugendlichen Auftakt folgten nach der Pause die Werke mittlerer und älterer Meister. Dieter Ammanns Konzert für Violine und Kammerorchester „unbalanced instability“ hatte seine Uraufführung wenige Monate zuvor in Witten bei den Kammermusiktagen erlebt und erhielt nun hier, in der vornehmen Akustik des Luzerner Konzertsaals, seine höhere sinfonische Weihe. Souverän am Pult Pablo Heras-Casado, der diesen Sommer ein ums andere Mal für den gesundheitlich angeschlagenen Pierre Boulez einspringen musste. Ammann hatte der Solistin Carolin Widmann, sein Violinkonzert „auf den Leib geschrieben“ wie er selbst sagt.
Kein Wunder also, dass Widmann technisch die höchsten Schwierigkeiten zu meistern hatte – was ihr bewundernswert mühelos gelang. Ammanns Violinkonzert stellt die Sologeige mitten hinein ins Orchestergeschehen, sodass man über Phasen nicht mehr weiß, wer der Solist ist, die Violine oder das Orchester. Das zum Kammerorchester abgespeckte Academy Orchestra unter Pablo Heras-Casado war Ammanns anspruchsvollem Werk gewachsen und bot ein packendes Konzert. Überhaupt war der Konzertvormittag ein Gang durch die Vielfalt des Zeitgenössischen: Pierre Boulez Werke aus den 70ern („Cummings ist der Dichter“ mit dem SWR Vokalensemble) und „Le Soleil des Eaux“ (1947) mit der Sopranistin Yeree Suh setzten der Formen- und Farbenvielfalt der jungen Wilden Formstrenge und Klarheit entgegen. In einem der Workshops von Boulez mit Mason, Madaras, Attahir und Cohen sagte Boulez einmal: „Wenn man nicht den Mut hat, zeitgenössische Musik vorwärtszutreiben, dann sind wir in einer Kultur, die stirbt.“ In diesem Sinne bewies dieses Academy Konzert auch Mut.