Besonders seltsam muten posthume Uraufführungen letzter Werke bereits verstorbener Komponisten an, denn hier fällt die Hinterlassenschaft eines vergangenen Meisters in eins mit dessen Testament auf eine Zukunft, die dieser selbst nicht mehr erlebt. Nachdem der 2007 verstorbene Karlheinz Stockhausen mit den „Tierkreis-Melodien“ (1974/75) die Sternzeichen der zwölf Monate des Jahres und im „Licht“-Opernzyklus (1977–2004) die sieben Tage der Woche sowie im „Jahreslauf“ der Oper „Dienstag“ (1977) die Jahrtausende, Jahrhunderte, Dekaden und Jahre komponiert hatte, arbeitete er bis zu seinem Tode an einem Zyklus über die 24 Stunden des Tages mit dem schlichten Titel „Klang“, dessen letzte drei Stundenwerke unvollendet blieben.
Nachdem die ersten beiden Stunden „Himmelfahrt“ und „Freude“ 2005 beziehungsweise 2006 im Mailänder Dom uraufgeführt wurden, sind jetzt bei der MusikTriennale Köln 2010 am 8. und 9. Mai im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des „Klang“-Zyklus’ am 8. und 9. Mai die letzten noch nicht aufgeführten sechs Stundenstücke erstmals zu erleben: die 8. und 11. Stunde „Glück“ und „Treue“, beides Bläsertrios, sowie die Stunden 15, 16, 17 und 18 „Orvonton“, „Uversa“, „Nebadon“ und „Jerusem“, alles Solostücke mit Elektronik, die auf jeweils 3 der insgesamt 24 Teilschichten der elektronischen Komposition „Cosmic Pulses“ (13. Stunde) basieren.
Die seltsamen Titel verdanken die Stücke Namen aus dem „Buch Urantia“, das laut Stockhausen-Biograph Jonathan Cott nach der Uraufführung der Orchesterfassung der „Hymnen“ 1971 in New York Stockhausen von einem bärtigen Mann mit Hirtenstab erhielt, mit der Bitte, „minister of sound transmission“ zu werden. Die 2.097 Seiten umfassende, angeblich von himmlischen Wesen dem in Chicago lebenden Medium Wilfred Custer Kellogg zwischen 1912 und 1935 geoffenbarte und 1955 erstmals publizierte Kosmogonie hat Stockhausen später immer wieder Schülern und Anhängern zur Lektüre empfohlen. Demzufolge leben im Superuniversum „Orvonton“ mit hunderttausend Lokaluniversen wir Menschen am Rande im Lokaluniversum „Nebadon“ auf einem der zehn Millionen bewohnbaren Planeten mit Namen „Urantia“, auf dem der Herrscher dieses Distrikts „Michael von Nebadon“ bei seiner siebten und letzten Fleischwerdung als Jesus von Nazareth in Israel geboren wird, um hier gegen eine von Luzifer – dem Herrscher des lokalen Systems „Satania“ – ausgehende kosmische Rebellion gegen den „Ewigen Vater“ vorzugehen. Nun ja, man darf gespannt sein, wie sich dies in den letzten Funksprüchen des Verewigten niederschlägt.
Weitere Uraufführungen:
1.–10.5.: Brigitta Muntendorf, Nan Zhang, Atac Sezer, Misato Mochizuki, neue Werke, MusikTriennale Köln
12.5.: Friedrich Cerha, Kammermusik mit Orchester, Musikverein Wien
15.5.: Moritz Eggert, Andernacht, Andernacher Musiktage
19.5.: Jan Müller-Wieland, Traumbilder Leichenstill, St. Reinoldi Dortmund
23.5.: Vykintas Baltakas, Kommentar zur Missa sexti toni von Josquin, Kantorei Kassel
27.5.: Ulrich Schultheiß, twelve für 12 Violoncelli, Musikhochschule Münster