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Uraufführungen 2021/05

Untertitel
Ein halbes Jahr Musik
Publikationsdatum
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Wie glücklich könnte man sein, würde man es auf Dauer nur besser mit sich selber aushalten! Doch schon Blaise Pascal erkannte: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Einzelne tendieren vielleicht zu einsiedlerischer Stubenhockerei, doch die Gattung Mensch insgesamt ist nun einmal ein nomadisch veranlagtes zoon politikon, ein viel und weit durch Savannen, Großstädte oder Shoppingmalls schweifendes und Gemeinschaften jeglicher Art bildendes Wesen: Staaten, Familien, Freundeskreise, Lesezirkel, Diskussionsrunden, Thekenmannschaften, Reisegruppen, Sportvereine, Kegelclubs, Chöre, Orchester, Publikum …

Wie lange wir all diese Tätigkeiten und Kontakte nun schon während der Pandemie vermissen, zeigt ein Work in Progress von Michael Denhoff. Seit am 2. November 2020 der zweite Lockdown verordnet wurde, notiert der Bonner Komponist jeden Tag einen Klang für Klavier. Den Anfang machte ein in Extremlagen gespreizter fff-Anschlag der Töne A-Cis-c4-gis4-ais4-h4.

Das Stück trägt den Titel „countertimecounter“. Der Zählzeitzähler bringt es ab der Kalenderwoche 45 des vorigen Jahres auf bisher 24 Akkoladen von jeweils einem einzigen 7/1-Takt mit jeweils sieben Akkorden für die sieben Tage der jeweiligen Woche. Auf der Homepage des Komponisten kann man sich kostenfrei die pdf-Datei dieses opus 122 herunterladen, um die Klänge dann zu Hause am Klavier zu spielen und zu erlauschen, und zwar „liberamente e parlando“ im Rahmen von Temposchwankungen zwischen acht und drei Sekunden pro Ganzenote. Zu Anfang wirken die Akkorde statuarisch und isoliert mit jeweils eigener Harmonik, Lage und Dynamik. Je länger der Lockdown jedoch anhält, desto mehr verbinden sich die Klänge durch Bindebögen, Dynamikpfeile, gehaltene Pedalisierung, rhythmische Sukzessionen und leittönige Fortschreitungen. Aus einzeln gezählten Tagen werden verfließende Wochen und Monate. Die Kalenderwoche 7 des Jahres 2021 beginnt – es war der Rosenmontag – „tutta forza“ mit zwei knallenden Clusterschlägen der beiden Ellenbogen zuerst auf den schwarzen und sofort nachschlagend auf den weißen Tasten. Der sechste Klang der KW 10 – also Samstag 13. März – lässt über tiefer Oktave ganz kurz „più f“ Ges-Dur aufblitzen und ist Hans-Joachim Hespos zu dessen 83. Geburtstag gewidmet.

Michael Denhoff möchte eine Musik entstehen lassen, „die nicht nur die jeweiligen Etappen der zunehmenden Einschränkungen der persönlichen Freiheiten (und die damit einhergehenden Gefühle & Gedanken) in der kompositorischen Struktur nachzeichnet, einfängt und widerspiegelt, sondern gleichzeitig auch eine akustische Gegenwelt / Gegenzeit in Klängen erzeugt“. Mit dem andauernden Lockdown schreiten die Komposition und deren sukzessive Uraufführung immer weiter fort, von Tag zu Tag, Woche für Woche. Ein Ende findet das Stück erst, „wenn Konzerte und damit auch wieder menschlicher und künstlerischer Austausch in direktem Kontakt möglich werden“. Doch bis wir uns dereinst einmal wieder als Homo musicalis ausleben und zu gemeinsamem Machen und Hören von Musik versammeln dürfen, bleiben wir zu Hause im Zimmer, um auf dem Klavier wahlweise aggressive, zornige, weiche, müde, triste, heitere oder gelassene Klänge zu ertasten und zu erhören, Ton für Ton, Tag für Tag, Woche für Woche …


Weitere Uraufführungen (unter Vorbehalt):

  • 01.05.: Karl Gottfried Brunotte, fu – mai / apokalyptische Erschwernis für konkrete Klänge, Radiophonie, variable Ensemble-Besetzung, präparierte Orgel, CD-Zuspielung, Live-Elektronik, Christuskirche Bad Homburg
  • 01.–09.05.: Peter Eötvös, Gordon Kampe, Miroslav Srnka, Richard Ayres, Anthony Cheung, Nina Šenk, Marc L. Vogler, Jonah Haven, Anahita Abbasi, Duoni Liu, Vladimir Guicheff Bogacz, Georgia Koumará, Oxana Omelchuk, Bára Gísladóttir, Luís Antunes Pena, alles in Live-Streamings des Festivals Acht Brücken / Musik für Köln
  • 21.05.: Oxana Omelchuk und Simon Rummel, neue Stücke zum Thema Nachthelle, Kunst-Station Sankt Peter Köln; und Tatiana Gerasimenok, Six of Wands, Zentrum für immersive Medienkunst, Musik und Technologie ZiMMT Leipzig

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