Barrie Kosky und Teodor Currentzis triumphieren in Zürich mit Giuseppe Verdis „Macbeth“. Joachim Lange beobachtet eine herausragende Inszenierung, einen Abstieg in die Finsternis menschlicher Abgründe, eine Perspektivenrochade; kurz: Wahnsinn mit Methode.
Macbeth und seine Lady sind der Inbegriff von seelischer Finsternis. Macht ist ihnen Selbstzweck, Morden kein Problem. Nicht aus purer Lust, das wäre zu einfach. Sie wird immerhin wahnsinnig. Ihn überkommt in seiner letzten Arie „Mal per me“ (die aus der Uraufführungsfassung von 1847 in die in Zürich gespielte, spätere von 1865 übernommen wurde) ein ziemlich klarer Blick auf sich selbst und sein Scheitern. Als personalpolitische Option ist der Dolch aber immer dabei. „Ich sehe einen Dolch?! Den Griff zu mir gedreht?“ singt Macbeth – da ist der Dolch noch ein Trugbild. Doch dann trifft er den König, Freunde, Rivalen. Und vorsorglich auch deren Nachkommen, sofern sie nicht fliehen können. Dabei haben die beiden Thronräuber nicht mal eigene Kinder. Wenn nicht ein Wunder passieren würde, hätte die Erbfolge eh einer Sonderregelung bedurft. Sublimierung als Antrieb auf dem Weg in den Abgrund ….
Als politisches Lehrstück ist „Macbeth“ rauf und runter durchdekliniert. Robert Carsens Kölner Inszenierung ist ein Exempel, an dem die Erinnerung an die CeauČ™escus in Rumänien mitspielte. Volker Lösch hat in Magdeburg aus den Hexen einen Chor der Magdeburgerinnen gemacht. Nicht als Wutbürger, jedoch als wütende Bürgerinnen. Etwas neben der Librettospur, aber treffsicher. Anders Peter Konwitschny: Der hatte in Graz in der genialen Shakespeare-Veroperung eine finstere Komödie gesehen, die Hexen gar als Vorboten einer emanzipatorischen Revolte enttarnt. Lediglich Peter Stein hat sie von der Abteilung Schminke und Nebel zum Märchenkitsch versteinern lassen. Also wie den ganze Rest zum Kalauer gemacht. Macbeth und kein Ende…
Barrie Kosky, Klaus Grünberg (Bühne und Licht) und Klaus Bruns (Kostüme) aber auch Teodor Currentzis am Pult der Philharmonia Zürich begeben sich jetzt auf einen Psychotrip: Kosky ganz in der Rolle des ernsthaft tierschürfenden Seelenforschers, der er eben auch ist. Bei ihm ist es Nacht, wo die Abgründe gähnen. Der szenische Witz kommt hier allenfalls als Rabe wie geradewegs aus einem Edgar-Allan-Poe-Käfig herbeigeflogen. Sitzt dann auf der Stuhllehne neben der Lady, die in den Wahnsinn abdriftet. Und dann mit ein paar Artgenossen am Ende auch neben Macbeth. Die Vögel bewegen sogar ihre Köpfe. Im Lichtkegel, allein und verlassen (von Gott sowieso, aber auch von aller Welt), einsam, mitten im Nichts. So könnte die Hölle aussehen, in der Macbeth landet. Vorher sah die Welt für ihn allerdings auch nicht anders oder viel besser aus.
Der Clou von Koskys äußerlich betrachtet sparsamer, geradezu puristischer Inszenierung ist der Blick, den er vermittelt. Er begibt sich konsequent in den Kopf seiner beiden Helden und zwingt uns so ebenfalls in diese Täterperspektive. Als dialektisches Lehrstück und als emotionale Selbsterkundung. So bekommen wir (wo gab das schon?) den ermordeten Banco nicht zu sehen, wie er da als Erscheinung vor dem Auge von Macbeth das Bankett zu einem vom gerade gekrönten König provozierten Eklat werden lässt. Dafür können wir das Problem, das Macbeth hat, wie unser eigenes nachvollziehen: Für Macbeth ist Banco da, doch dass ihn kein anderer (nicht mal seine Frau) sieht, ist zum Verrücktwerden! Wie überhaupt das ganze Bankett in der Wahrnehmung von Macbeth nicht wirklich stattfindet. Er, also wir, nehmen nur die Schemen nackter menschlicher Gestalten und ihre Stimmen wahr. Alles Wirkliche und lebendig Laute ist unwirklich. Wie schon der Einzug von König Duncan. Ferne Musik und lautes Stimmengewirr. Mehr kam bei Macbeth nicht an.
Allgegenwärtig (als nahezu einziges Ausstattungselement, neben den Raben, dem Dolch, zwei Stühlen, ein paar Papierschlangen und zwei gespenstischen, an umgestülpte Badewannen erinnernde Deckenleuchten) ist der Tunnelblick auf dem Weg ins Nichts. Nur mit Lichterreihen markiert. Wie eine endlose Straße. Oder der Dürrenmattsche Tunnel….
Die Konsequenz dieser radikalen Perspektivenveränderung (die man sowohl als Verengung wie auch als Erweiterung betrachten kann) ist die Konzentration auf die beiden Hauptfiguren des Stücks. Der Lohn ist der Abstieg in die Finsternis menschlicher Abgründe. Der Preis ist das Eindampfen aller anderen zu reinen Neben- oder Un-Figuren. Beim großen „Patria oppressa!“, der Klage des Volkes über das geknechtete Vaterland zu Beginn des vierten Aktes, marschiert der Chor völlig schwarz verschleiert auf. Erst nach und nach werden Gesichter enthüllt. Nicht als Spiel mit dem Burka-Gruseln, sondern als Bild für das Verschwinden erkennbarer menschlicher Individuen.
Das ist nur ein Beispiel von Koskys Bildern einer gedämpft verdichteten, auch mit ihrem Gegenteil spielenden Gedanken-Opulenz. Dazu gehören die Hexen als fleischgewordene Zwitterwesen, aus einer anderen Welt (des Unterbewusstseins). Ihre Stimmen kommen aus dem Dunkel der Kulisse. Ihre Körper von einer Gruppe nackter, stummer Statisten. Als geschlechtliche Mischwesen wanken sie wie die Zombies heran, werden gespenstisch von Projektionen ihrer selbst überblendet. Bei der ersten Weissagung greifen sie sich nach und nach einen der toten Vögel, unter denen Macbeth im Tiefschlaf liegt und legen so seine Obsessionen frei. Am Ende umringen sie ihn völlig, und greifen wie blutgierige Bacchantinnen nach ihm. Dieser Wahnsinn hat Methode. Seine reduzierte Darstellung trifft noch sicherer, als es das nach außen gekehrte Bilderfeuerwerk einer großen Show könnte.
Was zu einem großen Teil natürlich an den fulminanten Sänger-Darstellern liegt. Allen voran an der Lady von Tatjana Serjan. Die nimmt Verdis Gebot, den schönen Gesang zu meiden, zwar nicht wörtlich, gestaltet aber ihre dunkle Seite überzeugend. Der mit Markus Brück alternierende Dimitris Tiliakos lotet seine vokalen Grenzen aus und wächst darstellerisch und vokal in einen Macbeth auf Augenhöhe mit der Lady. Bei aller szenischen Sparsamkeit steuern auch Wenwei Zhang als Banco und Pavol Breslik als Macduff vokalen Luxus bei.
Im Graben entfesselt Teodor Currentzis musikalisch den abgründigen, an der Praxis des viel beschworenen historischen Originalklang-Furors geschult, genau jene dräuende Dunkelheit, die auf der Bühne zu sehen ist. Neben allem anderen ist dieser „Macbeth“ auch ein Paradebeispiel dafür, wie man hört, was man sieht und zugleich sieht, was man hört. Verdis „Macbeth“ in Zürich ist schlichtweg ein Triumph!